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Der neue Jugendterror

Der neue Jugendterror

Titel: Der neue Jugendterror
Autoren: Thilo Sarrazin
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und Konformitätsdruck des jeweiligen Zeitalters nicht gar zu groß, so konnten aus diesen Menschen bedeutende Wissenschaftler, Schriftsteller oder Künstler werden. Unterschiedliche Epochen bringen solche bedeutenden Menschen in sehr schwankender Zahl hervor. Daran sehen wir, dass auch Originalität und soziales Schöpfertum einerseits, Konformität und Gedankenlosigkeit andererseits sozial ansteckend wirken können.
    Zu diesem Thema des eigenen Kopfes gehört auch der Mut, sich bei theologischen, philosophischen, gesellschaftspolitischen oder im engeren Sinne moralischen Fragen einem Zeitgeist zu entziehen und eigene Positionen zu vertreten – oder aber, was nicht immer dasselbe ist, die kommenden Tendenzen des Zeitgeistes vorauszuahnen und zu formulieren. Faust sagt zu Wagner:
    Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit
    Sind uns ein Buch mit sieben Siegeln.
    Was ihr den Geist der Zeiten heißt,
    Das ist im Grund der Herren eigner Geist,
    In dem die Zeiten sich bespiegeln.
    Dabei lebt stets der gefährlich, der unabhängig denkt und den Mainstream verlässt:
    Wer darf das Kind beim rechten Namen nennen?
    Die wenigen, die was davon erkannt,
    Die töricht genug ihr volles Herz nicht wahrten,
    Dem Pöbel ihr Gefühl, ihr Schauen offenbarten,
    hat man von je gekreuzigt und verbrannt. 372
    Die Fähigkeit und den Willen, sich seiner eigenen Urteilskraft zu bedienen, ohne dabei im Übermaß der sozialen Ansteckung zu erliegen, nenne ich sozialen Mut. Die in Kapitel 3 dargestellten Erkenntnisse zur Bildung öffentlicher Meinung und zur Prägung individuellen Verhaltens zeigen ja nicht nur, dass eine Minderheit von Menschen gegen soziale Ansteckung weniger anfällig ist oder sich ihr ganz entzieht. Vielmehr können solche intellektuell und oft auch sozial nicht Angepasste in Perioden des Umbruchs Prozesse der Meinungsbildung erheblich beeinflussen, wenn sie den Willen und den Mut dazu haben sowie die notwendigen Führungseigenschaften und Fähigkeiten mitbringen.
    In solchen Leuten kann sich dann der Umbruch des Zeitgeistes brennpunktartig spiegeln. So löste Martin Luther die Reformation aus. Aber die nicht Angepassten können auch zufällige Chancen beherzt ergreifen und damit der Geschichte eine neue Wendung geben, die in der historischen Entwicklung vielleicht gar nicht angelegt war. Das galt sicherlich für die November-Revolution in Russland, die das Werk weniger radikaler Sektierer war und nur aufgrund eines gigantischen historischen Zufalls überhaupt Erfolg haben konnte.
    Kein Tugendterror ist denkbar, ohne dass sich die ihm zugrunde liegenden Glaubensgewissheiten oder die opportunistische Anpassung an diese über soziale Ansteckung weit verbreitet hätten. Häufig geht der fundamentalistische Blickwinkel, der jeder Art von Tugendterror zugrunde liegt, ganz unmerklich in den Änderungen des Zeitgeistes unter. Häufig bedarf es aber auch des sozialen Mutes einer geistig unabhängigen Minderheit, um seine Verengung zu sprengen.
    Das nicht angepasste Denken muss die Isolationsfurcht überwinden, die jeder geistige Sonderweg mit sich bringt. Dies gelingt meist dadurch, dass eine verschworene Gemeinschaft Andersdenkender entsteht, die sich zwar in ihrer Denkweise abgrenzt, aber dafür umso stärker aufeinander bezogen ist. Die Zustimmung der engen Gemeinschaft und die Einbettung in diese kompensieren die Isolation im größeren Zusammenhang. Das ist gleichzeitig auch ein Nährboden für Fundamentalismus innerhalb der Gruppe bis hin zur Radikalisierung.
    Rein gruppendynamisch lassen sich bei allen verschworenen Minderheiten – den Urchristen, den Bolschewisten, der Baader-Meinhof-Bande oder den radikalen Salafisten von heute – ähnliche Prozesse beobachten. Die Abhängigkeit des Einzelnen von seiner Gruppe kann dann unendlich groß werden. Das macht ihn so besonders wehrlos und fördert den Konformismus im Bezugssystem der Gruppe, aber auch die Gefahr, missbraucht zu werden. Dem Konformismuszwang in der Gruppe können wiederum nur besonders starke Charaktere entgehen. Das sind aber meist auch jene, die den konformistischen Gruppendruck für eigene Machtzwecke nutzen und so dem ganz schlimmen Tugendterror Vorschub leisten. So konnten und können Figuren vom Typ Stalins, Hitlers, Pol Pots oder Osama bin Ladens groß werden und Vernichtungsmacht an sich reißen.
    Der soziale Mut, mit einer Überzeugung sichtbar allein zu stehen und in einer Minderheit zu sein oder sich gegen die Herrschaft zu richten, darf nicht
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