Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der menschliche Körper

Der menschliche Körper

Titel: Der menschliche Körper
Autoren: Paolo Giordano
Vom Netzwerk:
Kapseln hervor. Die Fläschchen tragen kein Etikett, und eins davon ist fast leer. Egitto schluckt die sechzig Milligramm Duloxetin am Abend, bevor er in die Kantine geht, das hat er sich vor einigen Monaten in den ersten Wochen seiner Dienstzeit so angewöhnt, weil ihm schien, dass auf diese Weise der Großteil der unerwünschten Nebenwirkungen im Schlaf vergehen würde, angefangen vom Schlaf selbst, der wie eine Ladung Steine über ihn hereinbrach und ihm selten gestattete, länger als bis zehn Uhr aufzubleiben. In den ersten Tagen hatte er so gut wie alle im Beipackzettel des Antidepressivums angeführten Nebenwirkungen verspürt, von heftigen Kopfschmerzen bis zur Appetitlosigkeit, von Blähungen bis zu Anfällen von Übelkeit. Die merkwürdigste war eine Taubheit im Unterkiefer, ein Gefühl wie nach allzu ausgiebigem Gähnen. Das alles ist aber jetzt vorbei. Auch keine Spur mehr von der Peinlichkeit, die er anfangs beim Schlucken dieser Pillen verspürte, als er sich gescheitert fühlte, drogenabhängig, dasselbe Gefühl der Peinlichkeit, das ihn dazu brachte, die Kapseln aus den Blistern zu drücken und in die Fläschchen ohne Etikett zu füllen. Seit langem hat Egitto nun schon sein Scheitern akzeptiert. Und er hat entdeckt, dass es ein großes, butterweiches Wohlgefühl in sich birgt.
    Der Serotoninwiederaufnahmehemmer erfüllt perfekt die Aufgabe, für die er geschaffen wurde, nämlich jede Art von Kümmernis und emotionaler Anteilnahme fernzuhalten. Die chaotischen Angstzustände in der Zeit nach dem Tod seines Vaters – mit allen psychosomatischen Reaktionen samt den düsteren und verführerischen Gedanken, die der Beipackzettel allgemein als
suizidale Tendenzen
bezeichnete –, all das befindet sich jetzt irgendwo oben, wie ein durch einen Damm gestauter See. Der Oberleutnant ist zufrieden mit dem erreichten Niveau an Ruhe. Gegen nichts auf der Welt würde er diesen Frieden eintauschen. Manchmal hat er noch einen trockenen Mund, und gelegentlich hört er ein plötzliches hohes Pfeifen im Ohr, gefolgt von einem langsam verebbenden Donner. Und diese andere Unannehmlichkeit, na klar: Seit Monaten schon hat er keine anständige Erektion mehr, und die wenigen Male, die es ihm passierte, konnte er nicht einmal für sich selbst etwas daraus machen. Aber was schert ihn schon Sex auf einer Militärbasis mitten in der Wüste, bevölkert von fast ausschließlich männlichen Wesen?
    Er ist seit hunderteinundneunzig Tagen in Afghanistan und seit fast vier Monaten in der vorgeschobenen Operationsbasis FOB Ice, am nördlichen Zugang zum Gulistan-Tal, unweit der Provinz Helmand, wo die amerikanischen Truppen täglich Kämpfe ausfechten, um die Dörfer von den Aufständischen zu säubern. Die Marines betrachten ihre Arbeit in Gulistan als abgeschlossen, seitdem sie in strategischer Position einen Vorposten von knapp vier Hektar errichtet und ein paar umliegende Dörfer gesäubert haben, darunter Qal’a-i-Kuhna, wo der Basar ist. In Wahrheit aber ist die Säuberung dieses Gebiets nur teilweise erfolgreich gewesen, wie alle Operationen seit Beginn des Einsatzes: Die Sicherheitszone erstreckt sich über einen Radius von knapp zwei Kilometern rings um die Basis, im Inneren gibt es noch gefährliche Guerillaherde, und drum herum ist die Hölle.
    Nach einer Interimszeit, in der die FOB von Georgiern besetzt war, war das Gebiet unter italienisches Kommando gekommen. Mitte Mai war ein Konvoi mit neunzig Fahrzeugen von Herat aufgebrochen, über die Ring Road Richtung Süden bis auf die Höhe von Farah gefahren, um von dort nach Osten abzubiegen, vergeblich verfolgt von den Taliban, die überrumpelt worden waren. Oberleutnant Egitto hatte als Verantwortlicher für die Sanitätseinheit und als deren einziger Angehöriger an der Aktion teilgenommen.
    Sie fanden das Lager in verheerendem Zustand vor: wenige Baracken voller Ritzen und Spalten, ein paar tiefe Löcher im Boden mit zweifelhafter Bestimmung, Unrat, Rollen Stacheldraht und überall herumliegende Fahrzeugteile, die Duschen zusammengeschustert aus durchlöcherten Plastiksäcken, die im Freien an einer Reihe von Haken aufgehängt waren, ohne Trennwände. Von Toiletten keine Spur. Der einzige Raum in einigermaßen manierlichem Zustand war die Waffenkammer, was viel aussagte über die Prioritäten ihrer Vorgänger. Egittos Regiment hatte den Raum ausgewählt, um die Kommandozentrale darin unterzubringen. In den ersten Wochen war die ganze Arbeit darauf konzentriert gewesen,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher