Der Jakobsweg
die Hütte des armen Mannes, der die Pilger beherbergt hatte, wurde von der Feuersbrunst verschont.« Der Pater machte nur eine kurze Pause und fährt gleich fort: »Solche Geschichten erzählten sich die Menschen in den Wirtsstuben und Raststätten und wann immer sie sich unterwegs begegneten. Von Jahrhundert zu Jahrhundert wurden solche Anekdoten weiter berichtet, als wären sie eben erst geschehen, und mit vielen neuen Details ausgeschmückt. Der heilige Jakob hat als Schutzpatron besonders den armen Pilgern beigestanden und Geiz und Habgier bestraft. Kennen Sie die Geschichte von der Frau mit dem Brot?«
Ich kenne sie natürlich nicht, aber ohne meine Antwort abzuwarten, beginnt er sofort: »Die Frau hatte das Brot schnell unter der Asche versteckt, als der Pilger um eine Wegzehrung bat. Er sagte strafend: Frau, ich weiß, Ihr habt Brot im Ofen, doch es soll Euch zu Stein werden. Die Frau erschrak sehr, als sie tatsächlich statt des Brotes einen großen Stein im Herd fand. Da wußte sie, der Besucher war der heilige Jakob höchstpersönlich gewesen, verkleidet als armer Pilger. Aufgeregt lief sie ihm auf die Straße nach, doch weit und breit war niemand mehr zu sehen.«
Ich möchte den Pater fragen, was er selbst von diesen Legenden hält. Aber er kommt mir mit seiner Frage zuvor: »Wandern Sie aus religiösen oder aus sportlichen Motiven nach Santiago?«
»Mein Beweggrund ist persönlicher Art. Ich suche etwas, aber ich weiß nicht so recht, was ich suche«, sage ich unsicher. Einen Moment lang fühle ich mich unbehaglich. Bin ich nicht ein »falscher Pilger«, der an einer religiösen Wallfahrt teilnimmt, ohne selbst gläubig zu sein?
Aber Pater Sampedro, um mir vielleicht die Verlegenheit zu ersparen, ist schon wieder bei einem anderen Thema. Er berichtet von Roland, dem Gefolgsmann Karl des Großen. »Der letzte Kampf des Ritters Roland im Jahr 778 hat hier stattgefunden. Zusammen mit zwölf weiteren Getöteten ist er unter der kleinen Kapelle »Sancti Spiritus« begraben. Sie kennen doch sicher das Rolandslied?«
Ich kann nicht antworten. Der Redeschwall des Paters ist pausenlos, und seine braunen Augen funkeln vor Vergnügen. »Sterbend wollte Roland sein Wunderschwert Durendal an einem Fels zerschlagen, den er dabei spaltete, damit es nicht in die Hände der Sieger fiel. Er besaß auch ein berühmtes Horn, Olifant genannt, das meilenweit zu hören war. Aber aus Stolz hat er zu spät um Hilfe gerufen. Dabei zersprang es.«
»Pater Sampedro, Sie glauben also, dieser Ritter hat tatsächlich gelebt und alles hat sich so zugetragen?« gelingt mir ein Einwurf.
»Claro, el vivi - sicher, er hat gelebt! Pero, la verdad, como podemos saber hoy - aber die Wahrheit, wie können wir sie heute wissen? Das Heldenepos über Roland wurde irgendwann im 12. Jahrhundert in Frankreich niedergeschrieben, als er schon mindestens 300 Jahre tot war. So wurde Leben und Tod dieses Ritters legendenhaft verklärt. Im Rolandslied wird auch sein Kampf gegen den Riesen Ferragut geschildert. Halten Sie in Estella die Augen offen, denn dort werden Sie am Königspalast ein Relief finden, das diesen Kampf darstellt. Der Riese Ferragut ist da nicht größer als Roland. Seine Riesenhaftigkeit war nur symbolisch gemeint. Wir verstehen mit unserer heutigen Logik die bildhaften Denkweisen der Menschen im Mittelalter nicht mehr.«
»Wer hat denn eigentlich den Roland getötet?« frage ich. »Sie müssen den Zusammenhang kennen. Um 778 hatten die Mauren, wie die Araber genannt wurden, fast ganz Spanien besetzt. Karl der Große, damals erst König des Frankenreiches, erhielt eine Geheimbotschaft: Er solle Zaragoza von der Araberherrschaft befreien. Die Einwohner von Zaragoza würden ihm die Stadttore öffnen. Erfreut führte der König sein Heer über die Pyrenäen und weit durch das von den Mauren besetzte Spanien bis Zaragoza. Wahrscheinlich flößte der große Heerzug den Arabern großen Respekt ein, denn sie griffen nicht an. Doch die Stadttore blieben trotz aller Versprechungen verschlossen. Was war geschehen? Wahrscheinlich war den Bürgern Zaragozas aufgegangen, daß sie das bisherige Regime gegen ein viel rigideres eintauschen würden. Die Araber übten durchaus keine Schreckensherrschaft aus. Nur die Eroberungsfeldzüge am Anfang und die späteren Blitzeinfälle der Almoraviden und Almohaden, fanatische islamische Sekten, waren blutig gewesen. Verglichen mit der christlichen mittelalterlichen Welt bauten die Araber ein modernes
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