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Der Himmel kann noch warten

Der Himmel kann noch warten

Titel: Der Himmel kann noch warten
Autoren: Gideon Samson
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ihm.
    »So machen wir es«, sagt Doktor Baars.
    »Das ist gut zu hören«, sagt Opa. Er klingt ein klein wenig so, als würde er scherzen.
    Mama schnieft. Mama hat eine Lesebrille. Die setzt sie auf, wenn sie fernsieht. Und wenn sie Kartoffeln schält. Der Arzt spricht mit Opa. Der Praktikant tröstet Mama. Ich verstehe von alledem überhaupt nichts. Ich höre auch überhaupt nicht zu. Ich denke an nichts anderes als an Brillen.
    Papa geht nicht ans Telefon. Ich finde es fürchterlich. Opa sagt, alles käme in Ordnung, und Mama sagt überhaupt nichts dazu. Das finde ich auch fürchterlich.
    »Stell dir vor, sie fahren zum Flughafen, ohne dass wir mit ihnen gesprochen haben«, sage ich. Papa muss natürlich wissen, dass ich wieder operiert werde.
    Mama schaut auf ihre Armbanduhr. Jede Minute, in der Papa mich nicht zurückruft, wird die Chance, dass er es noch tut, ein klitzekleines bisschen kleiner. Die Operation ist schon übermorgen.
    »Monsieur soll sich mal hierher bewegen«, sagt Mama. »Der mit seinen Luxus-Spritztouren.«
    Ich sage Mama, dass das vielleicht nicht geht, weil Papa und Renate ein
Last-Minute
-Ticket haben.
    »Na und?«, sagt Mama. »Dann besorgt er sich halt ein neues.« Sie nimmt ihre Tasche und geht weg. Für jemanden, der aufgehört hat, raucht sie in letzter Zeit aber ausgesprochen viel. Ich sage nichts mehr dazu.

    Eine Erinnerung.
    Ich war neun. Genau neun. Es war mein Geburtstag, Opa und Oma waren da und Nina, und Mama stand in der Küche und machte Bratkartoffeln. Dazu gab es Hähnchen. Das hatte ich mir selbst ausgesucht. Papa würde gleich nach Hause kommen und dann würde gefeiert.
    Er war schon eine Stunde zu spät. Oma machte sich Sorgen. Opa sagte, bestimmt werde er gleich kommen. Nina hatte Hunger. Ich eigentlich auch, aber ich sagte nichts. Erst musste Papa da sein.
    »Wir essen jetzt«, sagte Mama. Weiter sagte niemand etwas. Die Kartöffelchen waren ganz hart und kalt. Das Hähnchen war trocken. Es war so ungefähr das ungemütlichste Geburtstagsessen, das ich je gehabt hatte. Wo steckte Papa nur? Er hatte mich doch nicht vergessen?
    Nina war längst weg. Ich wollte nicht weinen. Ich war schon neun. Oma sagte, wir könnten die Polizei anrufen. Mama hielt das für glatten Unsinn. Sie sagte, Opa und Oma sollten jetzt auch nach Hause gehen.
    »Zähne putzen«, sagte Mama zu mir. Und: »Entschuldige, entschuldige tausendmal.«
    »Du kannst doch auch nichts dafür, Ma.«
    Mama schüttelte den Kopf. »Weiß ich nicht«, sagte sie. »Weiß ich nicht.« Sie gab mir einen Gutenachtkuss. Ich dachte, dass ich eine Träne sah. Trotzdem wollte ich selbst nicht weinen.
    Es war schon fast elf Uhr. Ich konnte nicht schlafen. Ich wartete auf Papa. Uff. Endlich. Ich hörte ihn hereinkommen. Er ließ seinen Schlüsselbund fallen und warf etwas von unserem Flurschränkchen. Er sagte viel zu laut Hallo zu Mama. Dann war es still. Ganz lange still. Und dann begann Mama zu schreien. So wütend hatte ich sie noch nie erlebt. Papa ging weg. Nach oben, in mein Zimmer.
    »Prinzesschen«, flüsterte Papa. Er setzte sich auf meine Bettkante und beugte sich über mich. Ich hatte die Augen fest zugekniffen. Papa stank. Er küsste mich auf die Stirn. Ich hielt die Augen zu. Ich fühlte Tränen. Papa musste schnell weggehen. Ein Glück. Er ging. Ich weinte. Obwohl ich schon neun war.

    »Ich fahre zu Oma«, sagt Opa.
    »Jetzt?«
    Opa nickt. Ich nicke auch.
    »Morgen bin ich wieder hier«, sagt Opa. »Und wenn du willst, übermorgen auch.«
    Was soll das denn jetzt? Kommen da schon wieder Tränen? Ja, tatsächlich. Es ist nicht zu glauben. Aus mir ist wirklich die größte Heulsuse der Welt geworden.
    »Musst du weinen?«, fragt Opa.
    Ich schüttele den Kopf und wische mir übers Gesicht.
    »Weinen ist gesund«, sagt Opa.
    »Unsinn.«
    »Nein, wirklich.«
    Ich lache und ich weine. Was für ein prima Opa Opa doch ist. Das ist fast nicht mehr normal. Seht ihr? Schon umarmt er mich. Genau in dem Augenblick, als ich es will. Als ob er es wüsste. Opa ist der beste Opa der Welt.
    »Bis morgen, liebe Belle«, sagt Opa.
    »Und bis übermorgen«, sage ich.
    »Und überübermorgen«, sagt Opa.
    »Und überüberübermorgen.«
    »Und überüberüberübermorgen.«
    Opa lacht. Ich lache.
    Mama kommt wieder herein. Opa geht auf sie zu. Er umarmt sie. Mama kommt an mein Bett. Hinter ihrem Rücken zeigt Opa mir, wie eklig sie nach Zigaretten stinkt.
    »Tschüss, Opa!«, rufe ich.
    Opa öffnet die Tür zur Toilette. »Sie ist
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