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Der Herr der Tränen: Roman (German Edition)

Der Herr der Tränen: Roman (German Edition)

Titel: Der Herr der Tränen: Roman (German Edition)
Autoren: Sam Bowring
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leckten sie aus und pulten sich die Reste aus den Zähnen.
    Rostigan erinnerte sich plötzlich an den Lockenzahn, auf den er eine Zeit lang nicht geachtet hatte. Ein rascher Blick verriet ihm, dass er bereits braun wurde. Jetzt musste er die Blätter in ein Gefäß geben, denn sie zerbröselten leicht, wenn sie trocken genug waren.
    »Wenn du unsere restlichen Vorräte holst«, sagte er, »und mir einen kleinen Krug aus meiner Tasche mitbringst, werde ich dir ein Geheimnis anvertrauen.«
    Sie beeilte sich zu gehorchen, lief den Hügel hinauf und kam mit dem zurück, worum er gebeten hatte.
    »Also«, begann er, nahm ihr den Krug ab und füllte den Lockenzahn hinein, »ein Teil des Krauts ist in deinem Mund haften geblieben. Warum probierst du nicht mal die Beeren?«
    Sofort machte sich Tarzi über die restlichen Vorräte her. Bei jedem neuen Bissen gab sie ein Stöhnen von sich und verdrehte die Augen. Rostigan nahm es ihr nicht übel, dass sie alles aufaß, obwohl er auch gern eine oder zwei Beeren gegessen hätte. Zuletzt blieb noch ein Fläschchen Saft, das Tarzi entkorkte und sich mit verschmitztem Grinsen einverleibte. Dann richtete sie sich auf, wie vom Schlag getroffen. Ihre Augen waren größer als sonst.
    »Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Rostigan.
    »Mann«, sagte sie und schmatzte genießerisch. »Das war … bei der Großen Magie … ich habe es bis ins Rückenmark geschmeckt .« Sacht stellte sie das leere Fläschchen ab.
    Er lachte. »Sollen wir den Lockenzahn behalten?«
    Sie nickte. »Wenn wir vielleicht nur ein Blatt verkaufen? Stell dir vor, wie viel gutes Essen wir für so viel Gold kaufen könnten.«
    »Das könnten wir.«
    Ihr verschmitzter Blick kehrte zurück.
    »Was ist denn?«, fragte er.
    »Mir ist gerade etwas eingefallen, dessen Geschmack sich bestimmt ebenfalls verstärken ließe«, antwortete sie, beugte sich vor und küsste ihn.
    Sie schloss die Augen, und der Himmel wurde schwarz, als wäre plötzlich die Sonne erloschen. Einen Augenblick lang hing diese Finsternis über ihr, und dann herrschte genauso plötzlich wieder helllichter Tag.
    »Was hast du denn?«, fragte sie, schlug die Augen auf und war verärgert, weil seine Lippen nicht nachgaben.
    »Nichts«, erwiderte Rostigan wenig überzeugend. Hatte er sich vorgestellt, in die Nacht zu stürzen? Nein, das hatte er nicht.
    Er betrachtete die brechenden Wellen und den sonnigen Himmel. Dann ließ er seinen Blick die Oberfläche durchdringen. Tarzi verwandelte sich in eine verschlungene Anhäufung kreisender Energien. Durchscheinende Bänder verwoben sich und bildeten ihre Gestalt. Die wichtigeren Teile waren dichter – das Rot des Herzens, der Schatten des Rückgrats und der regenbogenförmige Trichter ihres Verstandes. Wie alles, was existierte, war sie aus den Fäden gewoben, die die Große Magie geboren hatte.
    Am Wasser krachten die Wellen wie eine Vielzahl glühender dünner Fäden auf den Sand und spülten formlose Fragmente auf den Strand. Darüber wehten Brisen in silbernen Linien heran, stets nur kurz sichtbar wie Fische, die sich drehen, sodass ihre Schuppen einen Moment lang aufblitzen. Goldene Ranken aus Sonnenlicht strebten vom Himmel zur Erde, Hunderttausende bis zum Horizont. Er hielt nach Bewegungen im schwankenden Wald Ausschau, doch die rührten nur von Vögeln in der Ferne her.
    Und er ließ seinen Blick noch tiefer gehen, dorthin, wo man spürte, wie die Dinge verbunden waren – das Land mit dem Meer, der Vogel mit der Wurzel, Tod mit Leben und Mann mit Frau –, zu einem gewebten Bild an den äußersten Rändern seiner Wahrnehmung. Dahinter wurden die Fäden noch blasser und waren nur noch erkennbar, weil sie so groß waren – Schatten der Riesen der Großen Magie, die sich unter dem Schleier der Welt bewegten, Schemen am Rande seines Sichtfeldes. Sie waren nicht deutlich genug, um sie genau zu erkennen, und deshalb bekam er auch keinen Hinweis darauf, was falsch gelaufen war. Die Große Magie anzusehen war so, als würde man in einen Fluss starren – man sah Spiegelungen auf dem Wasser, konnte jedoch nicht in die Tiefe dringen.
    »Komm«, sagte Tarzi und legte ihm die Hand an die Wange. »Wir waren zu lange in der Hitze – gehen wir in den Schatten.«
    Er ließ sich von ihr hochziehen und war froh, dass sie von dem, was gerade geschehen war, nicht die leiseste Ahnung hatte. Denn er hatte die Welt blinzeln sehen. Aber er sah es immer noch nicht kommen.
    Am Nachmittag ließen sie die Küste hinter sich
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