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Der Große Krieg: Die Welt 1914 bis 1918

Der Große Krieg: Die Welt 1914 bis 1918

Titel: Der Große Krieg: Die Welt 1914 bis 1918
Autoren: Herfried Münkler
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konnte die deutsche Regierung eine vertrauensvolle Kooperation mit den Nachbarn aufbauen. Die aber fürchteten den mächtigen Akteur in der Mitte des Kontinents und suchten sich gegen ihn zu schützen, was zwangsläufig auf eine politische Einkreisung Deutschlands hinauslief. Der Umgang mit einer solchen Herausforderung setzte politisches Geschick voraus, das die auf Bismarck folgenden Reichskanzler nur sehr begrenzt und der Kaiser überhaupt nicht aufzubringen vermochten. Die Folge war ein Syndrom von Ängsten und Befürchtungen, das die Entscheidungen der Politiker und Militärs in Europa beeinflusste. Die Franzosen fürchteten ihre Marginalisierung, die Russen sorgten sich um den Einflussverlust nach der Niederlage gegen Japan im Jahre 1905 , Österreich-Ungarn bangte um seinen Großmachtstatus, in Großbritannien herrschten Niedergangsängste, und in Deutschland litt man an der Einkreisungsobsession. Rationale Interessenverfolgung war unter solchen Umständen kaum möglich, zumal wenn solche Ängste durch geopolitische Überlegungen und demographische Entwicklungsstudien geschürt wurden, von denen sich die Politik unter Handlungsdruck gesetzt fühlte.
    Der Macht in der Mitte des Kontinents kam in dieser Situation eine besonders verantwortungsvolle Aufgabe zu, und vor dieser Aufgabe hat Deutschland versagt. Dieses Scheitern verlangt unsere Aufmerksamkeit umso mehr, als Deutschland nach 1990 wieder zu einer Großmacht in der Mitte Europas aufgestiegen ist und sich viele der Herausforderungen aus der Zeit vor 1914 erneut stellen – mit der freilich zentralen Differenz, dass an die Stelle des damaligen Mächtekonzerts ein zuverlässiges Bündnis- und Sicherheitssystem getreten ist und die Militärs längst nicht mehr über eine ähnliche Machtfülle verfügen wie zu Beginn des 20 . Jahrhunderts. Kultureller und vor allem wirtschaftlicher Macht kommt heute ein sehr viel größeres Gewicht zu, und, was vielleicht noch wichtiger ist, wir wissen um diese Gewichtsverschiebung. Doch die Herausforderungen der Position der Mitte bleiben, auch wenn diese heute nicht mehr militärstrategischer, sondern vor allem ökonomischer Art sind.

Die deutsche Balkanpolitik
    Was aber hat die deutsche Politik veranlasst, Österreich-Ungarn gegenüber Serbien und Russland uneingeschränkt zu unterstützen, nachdem sie bei ähnlichen Konflikten zuvor die Regierung in Wien ermahnt hatte, sich zurückzuhalten? An der Antwort auf diese Frage entscheidet sich letzten Endes, ob das Deutsche Reich im Vorfeld des Großen Krieges – in der Sprache der realistischen Schule der internationalen Politik formuliert – den Prinzipien eines
defensive realism
folgte oder aber eine Politik des
offensive realism
, wenn nicht gar die Vorbereitung eines Angriffskriegs mit dem Ziel imperialer Expansion betrieb. [54]
    Der Beurteilung der deutschen Balkanpolitik als
defensive realism
zufolge haben alle deutschen Erklärungen und Blankoschecks dem Ziel gegolten, den Großmachtstatus Österreich-Ungarns und somit den Status quo insgesamt zu bewahren, seitdem die auf dem Berliner Kongress gefundene Lösung erodiert und es zu den beschriebenen tiefgreifenden Machtverschiebungen auf dem Balkan gekommen war. [55] Im Unterschied dazu gehen jene, die in der deutschen Balkanpolitik das Prinzip des
offensive realism
sehen, davon aus, dass das Reich selbst eine Veränderung der europäischen Bündniskonstellationen angestrebt oder in der Region eigene politische und ökonomische Interessen verfolgt und darum eine militärische Konfrontation mit Russland nicht länger ausgeschlossen habe. Die erste Variante dieses
offensive realism
besagt, Reichskanzler von Bülow habe die bosnische Annexionskrise nutzen wollen, um die Entente zwischen Russen, Franzosen und Briten zu sprengen, indem er einen Konflikt eskalierte, in dem die Russen, nicht jedoch Franzosen und Briten eigene Interessen hatten. In diesem Fall konnten die Deutschen sicher sein, dass Österreich-Ungarn fest an ihrer Seite stand (wovon man sonst nicht unbedingt ausgehen konnte); Franzosen und Briten hingegen mussten sich fragen, ob sie für die Balkaninteressen Russlands in einen Krieg mit unabsehbaren Folgen ziehen wollten. Obendrein wäre ein russischer Erfolg ihren eigenen Interessen zuwidergelaufen, insofern Russland dann zu einer Macht mit Zugang zum Mittelmeer aufgestiegen wäre. [56] Eine solche Strategie der Deutschen hätte im Hinblick auf die geostrategischen Konstellationen einige Plausibilität
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