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Der Fluß

Der Fluß

Titel: Der Fluß
Autoren: Ketil Bjørnstad
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Gartenarbeit im Winter Schnee räumen muß, daß ich den Amazon in der Garage benützen kann, sobald ich den Führerschein habe, daß ich in Ausnahmefällen für sie einkaufen muß, daß sie abends ihre Ruhe braucht und das Wohnzimmer dann ihr gehört und nur ihr allein, genauso wie das Bad von 7 bis 8 Uhr und zwischen 23 und 24 Uhr für sie reserviert ist, da kann ich, wenn nötig, die kleine Toilette im Flur benutzen, daß wir getrennt unsere Mahlzeiten einnehmen, daß ich mir also entweder eine Kochplatte für das Zimmer oben besorge oder die Küche in ihrer Abwesenheit benutze, jedenfalls in der Regel. Ich habe meinen Platz im Kühlschrank, zweites Fach links. Die Tiefkühltruhe und die Waschmaschine im Keller stehen mir ebenfalls zur Verfügung, wenn es mir nichts ausmacht, daß sich in diesem Raum Bror Skoogerschossen hat. Marianne Skoog kann sehr lakonisch sein, sie neigt zum Galgenhumor. Die Annonce, so hat sie mir erzählt, hänge erst seit einigen Tagen an den Lichtmast, ohne daß sich jemand gemeldet habe. Sie wollte schon fast aufgeben. Daß nun ausgerechnet ich angebissen habe, sei fast komisch.
    Wirklich? Komisch? denke ich, als ich ihr zum Abschied die Hand gebe. Sie zu umarmen wage ich nicht, obwohl ich das machte, als Anja noch lebte, obwohl ich sie triefend naß aus dem Meer gezogen habe. Sie macht ihrerseits auch keine Anstalten.
    Und was meint sie mit dem Anbeißen?
    Ich gehe durch die Tür nach draußen.
    »Nur noch eine Sache«, sagt sie hinter mir.
    »Ja?« Ich bleibe stehen und drehe mich um. Sie sieht blaß aus, wie sie da steht.
    »Das Gästezimmer«, sagt sie. »Mein Mann hat es als Büro benutzt. Die Tür ist immer geschlossen. Betrete es niemals.« »Natürlich nicht«, sage ich.
    » Niemals «, wiederholt sie ruhig und mit einer deutlichen Handbewegung.
    »In Ordnung«, sage ich.
    Dann drehe ich mich wieder um und gehe.

    Ich fühle mich erleichtert und zugleich verwirrt. Das Unglück mit dem Segelboot haben wir mit keinem Wort erwähnt. Wir haben uns ziemlich lange unterhalten, aber ich erinnere mich nicht mehr an alles, weil mich das Wiedersehen mit ihr und das Betreten dieses Haus so stark berührt haben. Mir ist jedenfalls klar, daß ich eine wichtige Entscheidung getroffen habe, daß meine finanzielle Lage geregelt ist, daß ich genügend üben kann für das, was von mir verlangt werden wird. Ich muß mich selbst dazu ermahnen, mehr zu üben. Besser werden, viel besser, darumgeht es, wenn ich weiterhin Schüler bei Selma Lynge bleiben will. Ich brauche nur an Selma Lynge zu denken und bekomme ein seltsam schweres Gefühl im Magen. Die erste Begegnung im Herbst steht bald bevor. Dann muß ich das durchmachen, was Rebecca schon hinter sich hat: die Vorbereitung auf ein Debüt.

    Der Pakt, denke ich auf meinem Weg in mein altes Versteck, der Pakt mit Selma Lynge. Aber die Abmachung mit Marianne Skoog ist auch ein Pakt. Sie läßt mich in ihrem Haus wohnen. Sie läßt mich der Student sein, der in Anjas Bett schlafen darf, während sie hart arbeitet für gesundheitliche Aufklärung und das Recht der Frauen auf Abtreibung. Ich soll währenddessen Gärtner, Hausmeister und Schneeräumer sein. Manchmal der Hausfreund. Außerdem der, der einmal Anja liebte. Das ist keineswegs unwichtig. Ich mag Marianne Skoog. Das Verhältnis zu ihr ist immer einfach gewesen. Aber sie hat auch Autorität. Eine andere Art von Autorität als Selma Lynge sie hat. Selma Lynge ist wertekonservativ, kulturell geprägt. Marianne Skoog ist radikal und politisch geschult. Sie hat sich früh emanzipiert. Bekam früh ein Kind, in einer Zeit, als sozialistisch sein noch nicht so einfach war wie heute. Was denkt sie von mir? Wie sehe ich aus, in ihren Augen? Ein achtzehnjähriger Klavierschüler, mit dem man leicht Mitleid haben kann. Mutter gestorben, ohne Elternhaus, Schule abgebrochen, voller Selbstzweifel. Aber wer zweifelt nicht an sich? War nicht auch Marianne Skoog voller Zweifel, als sie an der Tür stand und mich einließ?
    Ich gehe wieder ins Erlengebüsch. Ein beklemmendes, inzwischen verlorenes Versteck. Was will ich da unten? Werde ich nie fertig mit der Vergangenheit, dem Geräusch des Flusses, des Wasserfalls, des Raschelns in den Bäumen? Im Erlengebüsch verwandelt sich das Herz, Träume werden geboren.Hier kann ich den Mond im tiefen Wasser anschauen, wie er langsam versinkt, hier bin ich in meiner eigenen Landschaft. Der Wasserfall, in dem Mutter ertrank, ist nur einige hundert Meter entfernt. Hier
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