Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt
Autoren: Carol Birch
Vom Netzwerk:
während ihr immer noch die Tränen aus den Augen liefen. Und dann war ich draußen und stolperte durch den frühen Abend in Richtung Highway, wo Matrosen und Bergleute sich schon für eine ausgelassene Nacht rüsteten. Ich ging in eine Schenke und betrank mich mit einem Matrosen aus Neapel, der die ganze Zeit fluchte und so lange ausgiebig seine Flohbisse kratzte, bis seine Arme bluteten. »Dreckige Unterkunft«, sagte er und spuckte. »Dreckiges Essen und dreckige Mädchen.«
    »Ganz genau«, sagte ich, »dreckig, alles dreckig«, und gab
noch einen aus. Ich würde nie mehr dorthin zurückkehren können.
    »Ich habe meinen Freund getötet«, sagte ich zu dem Italiener.
    Er wedelte verzeihend mit dem Arm, als wollte er sagen, tun wir das nicht alle? Ich öffnete den Mund, um noch mehr zu sagen, blieb aber sprachlos. Nie mehr zurückkehren. Sie war verlobt. Hatte alles keinen Sinn. Würde nur jedes Mal Salz in die Wunden reiben, wenn wir uns sähen.
    Die Schlepper und Huren hatten meine Apathie bemerkt und umlauerten mich, aber mir entging nichts. Gegen Mitternacht fuhr ich in einer Droschke nach Hause und legte mich schlafen, mit brummendem Schädel, trockenem Mund und einem Herzen so krank und geschwollen wie eine Zecke.
     
    Sie erzählten mir, ich hätte fünfundsechzig Tage lang gedämmert.
    Man kehrt nicht so einfach aus einer solchen Geschichte zurück. Nachts lag ich wach in der Dunkelheit und wusste, ich war gar nicht wirklich zurückgekehrt, wusste, dass ich weiter verloren war und es immer sein würde. Ich trieb in einem Strom plappernder Zeit. Ich tauchte unter. Traf mich nicht mit Ishbel. Sie schickte einen Brief, aber ich ignorierte ihn. Darin stand, sie bedaure, dass sie mich im Malt Shovel verpasst hatte, und hoffe, dass es mir gutgeht. Nun, sie war ein liebes Mädchen, natürlich sagte sie so etwas. Ich legte mich wieder ins Bett und stand einfach nicht auf. Ich blieb bei Mama oben im ersten Stock. Schlief und schlief, saß und saß, trank und trank, kritzelte mein Testament und zerriss es, immer und immer wieder. Die Geräusche draußen vor meinem Fenster trösteten mich. Mein Geschwür tat weh, ein nicht verheilendes Geschwür an meinem rechten Oberarm, von Tim, als er sich im Boot an mich klammerte. Ich hätte es ihr zeigen sollen. Ich hätte es Ishbel zeigen sollen. Hin und wieder blickte ich über die winterlichen Dächer. Traum
und Leben und Gedanken, Dunkelheiten und Lichter, die miteinander verschmolzen, mein Kopf kaum mehr als eine Blase kurz vorm Platzen. Mein Verstand spazierte auf Wolkenspitzen, schwang mich in trancehafte Höhen mörderischen Entzückens. Mein Kopf war ein Abgrund. Das Universum lastete auf mir.
    Mama kam ständig ins Zimmer und meckerte. Ich schickte sie jedes Mal weg. Eines Tages erzählte sie, sie sei zufällig Mrs Linver begegnet und die habe gesagt, es gehe mir hoffentlich gut und Ishbel schicke liebe Grüße. Woher wollte sie das denn wissen? So etwas sagten die Leute halt, um nett zu sein. Aber ich hatte sowieso keine Adresse von Ishbel, also war es an ihr, vorbeizukommen, wenn sie mich sehen wollte. Aber sie machte sich nicht die Mühe, und ich machte mir nicht die Mühe, und außerdem war ich sowieso viel zu müde, um irgendetwas zu tun oder über irgendetwas nachzudenken. Hier in dieser Welt zählte all das, was ich durchgemacht hatte, überhaupt nicht. Niemand hatte eine Vorstellung von mir. Nur Dan, und der war zu seiner Familie zurückgekehrt. Was hatte es für einen Sinn, all das zu erklären. Sinnlos. Wie hätte ich denn wieder eine Arbeit aufnehmen können, als wäre nichts geschehen?
    David kam immer wieder in mein Zimmer und kramte in meinen Sachen. Ob Sie es glauben oder nicht, ich besaß tatsächlich Andenken an meinen Schmerz. Ein Endchen Zwirn, einen Fetzen Segeltuch, ein paar Fingerknochen. Einer war von Tim, die anderen hätten von jedem sein können. Das war egal. Den Rest hatten sie uns weggenommen, als wir an Bord geholt wurden.
    »Hau ab, hörst du«, erklärte ich ihm.
    »Lass ihn in Ruhe, David.« Die Stimme meiner Mutter.
    Stimmen unten. Geräusche normalen Lebens.
    Ein Stein zerquetschte meine Brust. Ich verließ mein Zimmer nur dann, wenn es ganz still war. Mama brachte mir mein Essen hoch, und ich stocherte darin herum – Zeug, nach dem ich
mich auf dem Boot verzehrt hatte. Sie bearbeitete mich ständig, ich solle herunterkommen, setzte sich auf mein Bett, strich mir übers Haar und sagte, jeder frage nach mir und wünsche mir alles
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher