Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Den Tod im Blick- Numbers 1

Den Tod im Blick- Numbers 1

Titel: Den Tod im Blick- Numbers 1
Autoren: Rachel Ward
Vom Netzwerk:
für mich natürlich nicht, ich musste erst mal eine Weile dastehen, den Kopf voll mit Scheiß. Wenn ich sprang, würde mich dann der Wind tatsächlich zurückwerfen? Wie lange würde der Sturz dauern? Würde ich spüren, wenn ich den Boden berührte? Würde ich ganz unten am Boden aufschlagen oder auf dem geneigten Dach? War es wirklich so bestimmt? War das mein Leben, fünfzehn Jahre, mehr nicht? Hatte ich eine Zukunft, die irgendwo da draußen auf mich wartete, und war ich gerade dabei, sie zu verhöhnen?
    Ich versuchte mich zu konzentrieren, all diese wirren Gedanken auf den einen entscheidenden zu konzentrieren: Wenn ich es jetzt zu Ende brächte, wenn ich den Mut dazu hätte, könnte ich das Elend von einer Menge Menschen abwenden. Vor allem bestand die Möglichkeit, Spinne zu retten. Wenn niemand mehr seine Zahl sah, vielleicht existierte sie ja dann auch nicht mehr.
    Ich musste es tun und ich wollte es stilvoll tun, zum Beispiel mit dem Sprung in einen Pool. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und streckte die Arme weit aus. Ich würde mich selbst auszählen. Zahlen würden mich bis zum Ende begleiten. »Drei … zwei …«
    »Jem!«
    Ich schaute über die Schulter. O Gott, er war da, schoss aus der Treppenhaustür und ruderte mit seinen Armen und Beinen.
    »Jem! Bitte, bitte, nein!« Seine Stimme klang schwer vor Entsetzen.
    »Bleib weg, Spinne. Bleib weg von mir. Ich muss es tun.«
    »Aber wieso? Ich versteh nicht … bitte tu’s nicht. O mein Gott, bitte tu’s nicht.« Er schob sich näher ran.
    »Bleib weg!« Meine Worte ein schriller Schrei, fortgetragen vom Wind. Er blieb stehen und hob die Hände.
    »So schlimm wird es schon nicht, Jem. Gefängnis. Wir schaffen das schon. Und dann vergessen wir alles. Fangen noch mal von vorn an. Jem, bitte, wir kriegen das hin.«
    »Das ist es nicht. Ich kann es dir nicht erklären. Tut mir leid, tut mir so leid. Ich muss es tun.« Ich zitterte jetzt bis in die Knochen.
    »Ich versteh das nicht, Jem. Ich versteh nicht, wieso du mich verlassen willst. Warum tust du das?« Er rückte vorsichtig weiter nach vorn. Trotz Wind und Regen konnte ich seinen Schweiß riechen – er durchströmte mich und versetzte mich zurück an den Tag unserer ersten Begegnung unter der Brücke, zurück in die Nacht in der Scheune. »Warum willst du mich denn bloß verlassen, Jem? Ich versteh’s nicht.«
    Das zumindest war ich ihm doch schuldig. Eine Erklärung.
    »Ich muss den Zahlen ein Ende machen, Spinne. Ich bin die Einzige, die sie sieht. Sie sind in mir. Ich werd sie nicht los.« Ich senkte die Stimme und sprach jetzt mehr zu mir als zu ihm: »Ich muss es tun. Es ist die einzige Chance.«
    Aber er kapierte es nicht. Er war noch immer auf dem romantischen Trip.
    »Es muss doch nicht so enden, Jem. Wir können jetzt zusammen sein.« Seine Worte waren verführerisch – er war der Einzige auf der Welt, der wusste, was er mir sagen musste, was ich wirklich hören wollte.
    Ich fing an zu weinen.
    »Du willst das doch auch, Jem, oder? Ich weiß, dass du das willst. Du willst mir doch nicht erzählen, dass dir das alles nichts bedeutet hat, oder? Bitte sag das nicht …« Er weinte jetzt ebenfalls.
    Ich ertrag es nicht, wenn Männer weinen. Das ist doch irgendwie verkehrt, oder? Ihre Gesichter sind nicht dafür gemacht, sie verknautschen dabei so merkwürdig, dass es wehtut, zuzuschauen.
    Er war jetzt nah bei mir, ganz nah. Wenn er einen seiner langen Arme ausstreckte, konnte er mich berühren. Ich wollte es nicht – ich musste das jetzt durchziehen. Es war das Wichtigste, was ich je tun würde.
    Drei … zwei … und doch, und doch ihn wieder zu spüren, seine Arme um mich zu spüren, nur für einen letzten Moment – dieser verlockende Gedanke hielt mich zurück.
    »Warte, bitte warte ’nen Augenblick.«
    »Ich muss es tun, Spinne. Du verstehst das nicht.« Der Regen vermischte sich mit den Tränen auf meinem Gesicht, dem Rotz, der mir aus der Nase rann.
    »Ich versteh’s nicht. Ich versteh’s nicht, Mann. Wir hatten doch was zusammen. Wir können immer noch was zusammen haben. Du und ich, Jem.«
    »Nein, so wird es nie sein. Glücklich für immer und ewig. Das ist eine Lüge, Spinne. So was gibt’s nicht für Menschen wie uns.«
    Er sackte zu Boden, zusammengekrümmt zu einer Kugel, und griff sich an seine Sprungfeder-Haare. Er schluchzte und sagte gleichzeitig was. Ich konnte ihn nicht richtig verstehen. In diesem Moment, als er nicht guckte, hätte ich springen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher