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Das Mysterium: Roman

Das Mysterium: Roman

Titel: Das Mysterium: Roman
Autoren: Titus Müller
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dich? Was ist hier geschehen?« Sie ekelte sich plötzlich vor diesem Mann, vor seinem entzündeten |25| Fleisch, vor dem Gestank, den er verströmte. Aber sie wollte ihn lieben! Sie durfte nicht vergessen, wer er für sie gewesen
     war. Sie griff nach seiner Hand, drückte sie. Knöchern und kalt fühlte sie sich an.
    Er versuchte ein Lächeln. »Die Trauer, hier unten festzusitzen, es ist ein Gefühl wie Angst. Das gleiche Flattern im Herzen,
     die gleiche Unruhe. Ich muß die ganze Zeit schlucken. Ich ersticke hier. Wie eine Ratte sitze ich in der Falle und warte auf
     den Tod.« Er kam rasch näher und sah sie an. »Hol mich hier raus, Mathilde.«
    »Wie soll ich das machen?«
    »Hast du den Kerkermeister bestochen?«
    »Still! Die Wachen da oben müssen das nicht hören.«
    »Am Anfang bin ich wahnsinnig geworden vor Verzweiflung. Ich habe an den Ketten gerissen, habe mir mit den Schellen das Fleisch
     von den Fußgelenken geschabt. Jetzt ist alles wund, und Ungeziefer hängt im Fleisch. Ich lebe nicht mehr lange, Mathilde.
     Ein paar Tage habe ich noch, dann verrecke ich in diesem Loch.«
    »Stimmt es, was sie über dich gesagt haben bei der Verhandlung?«
    »Wie hübsch du bist. Halte die Fackel näher ans Gesicht! Daß ich dich noch einmal sehen darf!«
    »Vater?«
    »Was schaust du so kalt?«
    »Der Inquisitor, die Zeugen, die Beweise. Es hat geklungen, als wärst du wirklich schuld. Sage mir die Wahrheit. Wie soll
     ich dich lieben, Vater, wenn ich nicht weiß, wer du bist? Habe ich all die Jahre einen anderen zum Vater gehabt, einen Mann,
     den es nur in meiner Vorstellung gab?«
    »Töchterchen«, flüsterte er. Er wischte sich über das Auge. »Es ist anders, als du denkst. Hör mir zu. Höre wenigstens die
     ganze Geschichte. Wie lange brennt die Fackel? Dieses Licht, es tut so gut, Licht zu sehen. Und dich. Du hast ein Recht darauf,
     die Wahrheit über deinen Vater zu erfahren. Ich werde sie dir erzählen. Ja, ich habe Amiel von Ax wie einen |26| Lehrmeister geachtet. Erschreckt dich das? Du verabscheust mich dafür. Aber bedenke: Du hast es leicht, heute, mit allem,
     was wir wissen. Ich dagegen mußte erst mühsam lernen.«
    »Also stimmt es. Alles, was der Inquisitor gesagt hat, ist wahr.«
    »Eine Geschichte ist nur dann wahr, wenn man sie vollständig erzählt.«
    »Aber du hast sie mir nicht erzählt. Du hast mir nie gesagt, wer du wirklich bist.«
    »Es tut mir leid.«
    Sie wollte gehen. Fortgehen und sich irgendwo hinlegen und weinen.
    »Man drohte, mir den Hals umzudrehen. Ich mußte damals untertauchen. Gehungert habe ich, zwei Jahre lang. Bei den Bauern,
     für die ich geschuftet habe, hingen Würste über dem Feuer, duftende Würste, die sie geräuchert haben – mir sind die Augen
     übergegangen, aber ich durfte sie nicht einmal berühren. Daneben hingen gesalzene Schinken. Die alten Vetteln, die man an
     die Feuerstelle gejagt hat, weil sie häßlich und geschwätzig geworden sind, diese alten Vetteln, die in der Küche mit den
     Katzen geredet haben und die Töpfe und Schüsseln gezählt haben, die aßen genüßlich schmale Schinkenstreifen, und ich bekam
     nichts ab. Ich weiß noch wie heute, wie sie ihre gestreiften Katzen aus Syrien mit Wurstzipfeln gefüttert haben, wie sie dazu
     sagten: ›Daß du mir schön die Ratten vertreibst, diese Mistviecher, ich habe erst gestern eine schwarze Ratte gesehen bei
     den Schweinen im Stall, wo warst du, warum hast du sie nicht verjagt?‹ Und die Katzen verschlangen die Wurst, und ich war
     hungrig.«
    Eine erbärmliche Ausrede. Wenn der Inquisitor recht hatte, dann hatte Vater gemordet, gelogen, ketzerische Lehren verbreitet.
     So etwas tat man nicht aus Hunger. Er kam ihr plötzlich schwach vor, der Vater, den sie immer für einen starken Mann gehalten
     und bewundert hatte.
    Er verstummte, kniff die Augen zusammen.
    Las er ihre Gedanken?
    |27| »Du hältst dich für gut, Mathilde?« fragte er. »Was hast du verstanden vom Leben? Wenn du meinst, mit dem Urteilen schon fertig
     zu sein, dann laß mich hier in Frieden sterben. Ich weiß, was ich getan habe und warum. Und Gott weiß es auch.« Er rührte
     seinen Fuß, wankte kurz, als fiele es ihm schwer zu stehen. Die Ketten klirrten.
    Für all die Jahre, die er gut zu ihr gewesen war – müßte sie ihm nicht selbst dann beistehen, wenn er ein Mörder war und ein
     Lügner und Ketzer? »Ich bin durcheinander. Ich will hören, wie es wirklich war. Bitte erzähle es mir.«
    Er wandte das
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