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Das Mysterium: Roman

Das Mysterium: Roman

Titel: Das Mysterium: Roman
Autoren: Titus Müller
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Von dem Mann keine Spur. Mathilde bekam es mit der Angst zu tun. Es war ihr Instinkt. Ihr Instinkt trog
     sie nie. Sie spürte es, wenn jemand log, sie ahnte Dinge, die im verborgenen geschahen, sie wußte zielsicher das Böse in den
     Augen eines Menschen auszumachen. Vater sagte, Aristoteles habe fünf Sinne gefunden, die den Menschen zu eigen seien, sie
     allerdings, Mathilde, besäße einen sechsten Sinn. Wenn sie einen sechsten Sinn besaß, dann warnte er sie gerade in einer Weise,
     wie er es noch nie getan hatte.
     
    München war eine alternde ehemalige Kaiserstadt. Sie waren noch da, die prunkvollen Steinhäuser mit Ritterwappen über der
     Tür, auch der Kaiserhof stand noch, und hundert Türme bewachten die Stadtmauer wie ehedem. Aber auf dem Platz im Kern der
     Stadt, den Kaiser Ludwig damals durch Abriß vieler Häuser freigeräumt hatte, sproß Unkraut, der Marktbrunnen war bemoost,
     und von den prächtigen Gebäuden, die den Platz säumten, blätterte die Farbe ab. Selbst vom Rathausturm rieselte der Putz.
    Es war, als sei der aufstrebende Geist der Stadt mit dem Kaiser gestorben. Gevatter Tod führte die Pest im Gefolge, |12| die große Seuche raffte Hunderte Männer und Frauen hinweg, und seitdem ragten mahnend die unfertigen Türme der Peterskirche
     in den Himmel. Unwillig mauerten wenige Handwerker daran weiter. Während die steinernen Stümpfe wie durch einen Fluch nicht
     wuchsen, wuschen Regen und Wind die Reichsfarben von den Stadttoren ab. Nur noch bei bestem Sonnenlicht konnte man das Schwarz
     und das Gelb an den breiten Flankentürmen sehen. München war nicht mehr Kaiserstadt. Ein anderer regierte an einem anderen
     Ort.
    Es gab die Brauer. Zwanzig Brauereien verarbeiteten Gerste aus dem Umland zu Bier. Sie bewahrten Stolz und Würde der Stadt
     wie die Goldschmiedemeister am Marktplatz, in der Weinstraße und in der Burgstraße. München besaß mehr Goldschmiedemeister
     als jeder andere Ort in Bayern. Sie prägten ihren Arbeiten einen Mönchskopf ein als Beschauzeichen, ganz so, als wollten sie
     im Gold den alten Geist der Kaiserstadt hüten.
    Wie sich im Fell eines alternden Bocks das Ungeziefer einnistet, so zog auch die vormals prächtige Stadt lichtscheues Gesindel
     an. Nie wurde das deutlicher als in diesen Tagen im Juli. Auf dem Anger feierten und tanzten sie, die Gaukler, die wandernden
     Schausteller, die Streuner und Betrüger. Jacobidult hieß ihr Fest. Es gab sich den Anschein gedankenloser Fröhlichkeit. Auch
     das Pferderennen, das auf den Wiesen vor dem Neuhauser Tor veranstaltet wurde, trübte die Wachsamkeit der Münchner. Der Besitzer
     des schnellsten Pferdes erhielt ein Scharlachtuch, der Zweitplazierte einen Sperber mit Jagdausrüstung, der dritte eine Armbrust.
     Dem letzten, dem also, der das langsamste Pferd sein eigen nannte, übergab man unter dem Gejohle der Menge ein Schwein, die
     Rennsau.
    In Wahrheit sollten die Einwohner der Stadt eingelullt werden, während die Späher der Schurken an den Ziehbrunnen lauerten,
     sich hinter die Trödler am Straßenrand duckten und heimlich die Klingen wetzten. Des Nachts rotteten sie sich in den Spelunken
     zusammen, die es in großer Zahl in jeder Straße gab.
    |13| Mathilde wußte davon. Sie war nicht leichtsinnig wie viele der Kaufleute, die den bunten Trubel begrüßten, in der Hoffnung,
     daß er Leben in die Stadt brachte. Nein, sie wußte: Wer wohlhabend war wie Vater, wurde leicht zum Opfer. Der Alte war ein
     Köder, man stellte Vater eine Falle.
    Sie eilte durch die Stadt. Es war warm. Auf einer Fensterbank im ersten Stock lag eine Katze und schlief. Ihr Ohr zuckte,
     als wollte es Fliegen verscheuchen. Oder störte sie der Krach? Die Stadt keuchte laut in diesen Sommertagen. Hammerschläge
     hallten scharf durch die Gassen, Sägen und Schleifsteine fauchten, Kinderkreischen mischte sich mit dem Geschnatter von Gänsen.
    Mathilde pochte das Herz bis in den Hals. Sie mußte Vater sprechen, sofort. Und wenn es bedeutete, daß der Eichmeister vor
     dem verschlossenen Lagerhaus stand. Oder täuschte sie sich, und der Greis war harmlos? Jemand aus der Anfangszeit, aus den
     Tagen, als der Vater reisender Krämer war und Kämme verkaufte in Andechs, Augsburg, Holzkirchen, Moosburg? Er hatte einmal
     erzählt, daß er den englischen Gelehrten William Ockham kannte. Aber der war seit acht Jahren tot. Nein, etwas stimmte nicht
     mit diesem Mann.
    Sie passierte das Talburgtor und ging über die Brücke, die den
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