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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau
Autoren: Wolf Serno
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wäre, sein Einverständnis für einen längeren Verbleib Abrahams in Göttingen zu geben.
    Alena hängte die Schürze an ihren Platz und sah aus dem Fenster. Draußen stand Abraham, der einen prächtigen Braunen vor den hochbeladenen Karren spannte. Das Pferd war ein Geschenk des Barons von Zarenthin, der in seiner freundlichen Art darauf gedrängt hatte, dass »der neue Doktor« von Bonnebeck seine künftige Wirkungsstätte standesgemäß erreichen müsse. »Respekt, mein lieber Doktor Abraham«, hatte er anlässlich eines kurzen Besuchs im Haus der Witwe gesagt, »ist etwas, das man
meritorisch
erwirbt, keine Frage! Aber genauso wichtig ist der erste Eindruck eines Mannes. Und ein Mann, der sich – verzeiht mir die Offenheit – wie ein Vertreter des fahrenden Volkes vor den eigenen Wagen spannt, gerät von Anfang an in die falsche Schublade.« Dann hatte er sich entschuldigt, er müsse zurück zu seiner Sammlung an Kuriosa und Exponaten aus aller Welt. Sie sei das Einzige, was er noch habe. Neben seiner Frau natürlich.
    Abraham hätte das Geschenk am liebsten abgelehnt, weil er sich dem Baron ohnehin schon über Gebühr verpflichtet fühlte, aber auch, weil seit Juli des vergangenen Jahres vielversprechende Nachrichten aus Paris kamen. Nachdem am Vierzehnten desselben Monats der Sturm auf die Bastille erfolgt war, galt in Frankreich das Prinzip der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Sämtliche Privilegien des Adels waren abgeschafft worden, und eine Nationalversammlung, die sich zum größten Teil aus Deputierten des Dritten Standes zusammensetzte, hatte sich konstituiert. Das alles gefiel Abraham, der den größten Teil seines Lebens unter dem Dünkel hochgestellter Herren gelitten hatte, und der Gedanke, nach Frankreich zu gehen, hatte etwas Verlockendes für ihn. Doch letztlich war es bei der Entscheidung für Bonnebeck geblieben, zumal auch Alena und die Mehrheit seiner Puppen darauf bestanden hatten.
    Alena strich sich ihr schwarzes Kleid glatt und holte eine kleine Pflanze aus einem Versteck hervor. Dann rief sie: »Mutter Vonnegut!«
    Sie musste mehrmals rufen, bis sich die Tür öffnete und die Witwe schweren Schrittes aus ihrer Kammer hervorkam. Sie hatte gerötete Augen, gleichermaßen vom Weinen wie vom Liqueur, und fragte: »Beim lieben Herrgott, ist es etwa schon so weit?«
    »Nein, Mutter Vonnegut.« Alenas Augen lächelten. »Aber es dauert nicht mehr lange. Ich möchte Euch zum Abschied für alles herzlich danken und« – sie machte eine Pause, denn sie spürte, wie ihr die Tränen kamen – »jedenfalls möchte ich Euch danken, mehr, als ich es in Worte fassen kann. Deshalb will ich es mit diesem kleinen Bäumchen sagen.«
    »Oh, Kind, du rührst mich in der Seele.« Die Witwe schniefte und nahm zögernd das Geschenk an. »Was ist das für ein Gewächs?«
    »Ein Myrtenbäumchen. Ich dachte, es passt recht hübsch, denn die Myrte ist ein Symbol für die über den Tod hinausgehende Liebe. Und lieben tun wir Euch, Mutter Vonnegut. Wenn es Euch nicht gegeben hätte, wäre es mit Julius’ Studium sicher nichts geworden. So aber hatten wir die ganze Zeit ein Heim und eine Zuflucht.«
    »O Gott, o Gott, mach’s mir doch nicht so schwer, Kind!« Die Witwe schluchzte auf und drückte das Bäumchen an ihren mächtigen Busen.
    »Das Bäumchen soll Euch immer an uns erinnern.«
    »Ja, ja, das soll es! Ich werde es hegen und pflegen wie meinen Augapfel, und wenn es ihm gutgeht, weiß ich, dass es auch Euch gutgeht, wenn ihr da draußen in der Ferne seid, du und dein Julius.« Wieder schluchzte die Witwe vernehmlich. Sie nestelte mit einer Hand nach einem Taschentuch, fand es und tupfte sich damit die Augen ab. »Wo ist Julius überhaupt?«
    »Hier bin ich, Mutter Vonnegut.« Abraham betrat den Raum. »Ich fürchte, es ist Zeit, Lebewohl zu sagen. Für alles, was Ihr uns an Gutem getan habt, möchte ich Euch herzlich danken, ich …«
    »Genug der Worte, papperlapapp.« Die Witwe versuchte heroisch, ihre gewohnte Burschikosität zu erlangen, doch es gelang ihr nur kurz, denn im nächsten Moment schluchzte sie schon wieder. Ihr Weinen war so echt, so herzzerreißend, dass Alena alsbald einfiel. Abraham stand wie ein begossener Pudel neben den beiden Frauen und kam sich überaus hilflos vor. »Tja, dann …«, brachte er hervor. »Es ist Zeit.«
    »Nein, noch nicht!« Die Witwe schniefte. »Nicht, bevor ihr den Rat einer alten Frau mit auf den Weg genommen habt. Hör mal, Julius, ein Wort für
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