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Das ist das Leben!: C'est la vie (German Edition)

Das ist das Leben!: C'est la vie (German Edition)

Titel: Das ist das Leben!: C'est la vie (German Edition)
Autoren: Françoise Héritier
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ist, besteht aus einer Offenheit gegenüber der Welt – aus Beobachtungsgabe, Empathie für das Seiende, Einssein mit dem Wirklichen. Das Ich denkt und handelt nicht nur, es fühlt auch und verspürt naturgemäß eine innere Energie, die sich stetig erneuert. Wäre es ganz ohne Neugier, Einfühlsamkeit, Verlangen, ohne die Fähigkeit, Freude und Leid zu empfinden, was wäre dieses Ich, das denkt, spricht und handelt?
    Ich wollte der nicht fassbaren Kraft nachspüren, die uns antreibt und uns ausmacht. Natürlich hängt diese Kraft von unserer Lebensgeschichte ab, aber sie ist nicht auf die Vergangenheit bezogen, sondern sie ist die Grundlage und die, wenn auch unbewusste, Rechtfertigung jeder gegenwärtigen und künftigen Handlung. Das Ich wäre nicht, was es ist, wenn bestimmte Ereignisse, die sein Leben geprägt haben, nicht eingetreten wären – aber es wäre auch nicht so, wenn es nicht die Chance gehabt hätte, dieses oder jenes Gefühl zu empfinden, bei dieser oder jener Gelegenheit ein Kribbeln zu verspüren und diese oder jene körperliche Erfahrung zu machen.
    Dieses Buch ist ein Plädoyer dafür, nicht einfach nur die Kindheit als Teil unserer Persönlichkeit anzuerkennen, sondern diesen großen blühenden Garten der Affekte, die uns – empfindsame Wesen, die wir sind – prägen und weiterhin stetig prägen werden. Ein Plädoyer dafür, dass wir nicht nur von Zielen besessen sein sollten, die wir erreichen wollen – Karriere machen, Unternehmungen anpacken, Rentabilität sichern –, und dabei das Ich aus den Augen verlieren, das auch noch im Spiel ist. Damit wir wissen, dass die ständig erneuerte Lebensleistung von diesem inneren Motor angetrieben wird, nämlich der Neugier, dem einfühlsamen, wohlwollenden oder auch konstruktiv-kritischen Blick, den das Ich auf seine Umgebung richtet.
    Man muss sich Zeit nehmen, um diese persönliche Blütenlese der Sinne zu gestalten – die man auch gemeinsam mit anderen unternehmen kann –, das grundlegende Substrat der conditio humana . Mit diesem und auch mit vielen anderen Begriffen (denken wir an das »Jammertal«, das unser Leben auf Erden sein soll) gelangt man immer irgendwann zu der schmerzlichen Erfahrung der Endlichkeit. Ja, aber zum Menschsein gehört eben auch Lust, Appetit, Verlangen, Spüren und Fühlen, dazu gehört es, ergriffen, gerührt, betroffen zu sein und all das anderen mitzuteilen, die diese gemeinsame Sprache verstehen.
    Unser Ich besteht ebenfalls aus Erinnerungen, aber wonach werden sie ausgewählt? Es geschieht ohne unseren Willen, und die Psychoanalyse kann ganz genaue Gründe für ein notwendiges Verdrängen anführen, auch wenn nicht alle vergessenen Erinnerungen dem Unbewussten unterliegen. Das Ereignis geht vorbei, doch das Wesentliche ist in unseren Körper eingeschrieben und kommt durch einen flüchtigen Auslöser, durch ein prickelndes Gefühl, durch die erstaunlich heftige und manchmal unnachvollziehbare Kraft einer Emotion wieder an die Oberfläche. Woran sollte das liegen, wenn nicht an dieser scharfen inneren Stimme, diesem lebenswichtigen Dynamo, von dem wir nicht einmal wissen, dass wir ihn im Lauf der Zeit entwickelt haben? Die Erinnerung selbst mag nicht mehr bestehen, aber das sensuelle Gedächtnis des Körpers spricht ständig mit uns. Wir sind ein Gewebe voller Sensoren, die lang- und zählebige Eindrücke speichern. Sie sind die Tutoren, die uns führen und leiten. Zu viele Erinnerungen würden uns lähmen. Stellvertretend dafür bleiben uns die Urbilder dessen erhalten, was uns im großen Repertoire der Emotionen wirklich berührt.
    Hier ist Proust nicht weit. Doch nicht der Geschmack der Madeleine, des Sandtörtchens, bringt die Erinnerung zurück – es ist die empfundene sensorische Erregung, die denselben Sinneseindruck wie in der Kindheit heraufbeschwört. In einem Ritual, in dem sich alles – der außergewöhnliche Rahmen, die Zeit, die Person der Tante, der Tee, die Madeleine – verdichtet wie in einem gut gezielten Pfeil und für immer im süßen, ein wenig faden Geruch einer Konditorei festsetzen wird. Also in jener Sinneswahrnehmung, die vielleicht bei diesem Kind am ehesten in der Lage war, der immerwährenden Lebendigkeit des Ganzen prägnant Ausdruck zu verleihen.
    In gewisser Weise lässt sich der Sensualismus des Philosophen Étienne Bonnot de Condillac an jedem Einzelnen von uns aufzeigen. Die Welt existiert mittels unserer Wahrnehmung, bevor sie in unserem Denken in eine Ordnung gebracht wird.
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