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Das Hexenkraut

Das Hexenkraut

Titel: Das Hexenkraut
Autoren: Franziska Gehm
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hatten sie keine Zeit. Sie mussten es heute über den Gipfel und bis ins nächste Tal schaffen, wollten sie am nächsten Tag die Todesschlucht erreichen.
    Den ganzen Weg über wechselten Jakob undMarthe kaum ein Wort. Es war schwer, sich bei dem peitschenden Regen und dem rutschigem Untergrund zu unterhalten. Jakob war sich jedoch nicht sicher, ob es nur daran lag. Vielleicht nahm es ihm Marthe auch übel, dass er ihr gestern nicht geantwortet hatte. Doch selbst wenn Jakob gewollt hätte, konnte er ihr nicht antworten. Er wusste die Antwort einfach selbst nicht.
    Als sie den Gipfel endlich erreichten, tobte das Unwetter noch immer. Sie konnten weder eine Pause einlegen noch die Aussicht genießen. Sofort kletterten Jakob und Marthe auf der anderen Seite ins Tal hinab. Allmählich ließ der Regen nach. Der Wind flaute ab. Zwar jagten sich am Himmel noch immer die Wolken, aber die ganz dunklen hatten sich aufgelöst. Die Bäume wurden wieder höher und standen dichter. Der Boden war von Moos und Gräsern bewachsen.
    »Hier«, sagte Marthe und hielt Jakob den Mantelsack hin. »Nimm du. Ich muss mal kurz verschwinden.« Mit diesen Worten trat Marthe hinter ein Gebüsch.
    Jakob schulterte den Mantelsack und ging langsam weiter. Die Muskeln in seinen Beinen brannten noch von dem beschwerlichen Aufstieg. Während erjetzt über Steine, Äste und Gräser bergab lief, zitterten seine Knie. Die nasse Kleidung klebte an seinem Körper. Er war erschöpft, müde und hatte Hunger. Sobald sie eine kleine Lichtung fanden, würden sie Pause machen.
    Auf einmal nahm Jakob aus den Augenwinkeln eine Bewegung war. Hinter ihm knackte ein Ast. Er blieb sofort stehen. Beinahe hätte er sich umgedreht. Aber den Gefallen wollte er Marthe nicht tun. Er würde kein zweites Mal auf sie hereinfallen.
    Deutlich hörte er dicht hinter sich ein Geräusch. Es klang wie ein tiefes Schnaufen.
    »Marthe. Lass den Blödsinn!«, sagte Jakob. Er ging langsam weiter, ohne sich umzudrehen.
    Wieder knackte ein Ast. Dann war ein dunkles Röcheln zu hören.
    Eins musste man Marthe lassen: Sie war wirklich gut darin, unheimliche Geräusche zu machen. »Marthe, hör auf! Ich lasse mich nicht noch mal von dir zum Narren halten.« Jakob ging weiter. Er spitzte die Lippen und pfiff ein Lied vor sich hin. Marthe sollte bloß nicht denken, sie könnte ihm Angst machen.
    Plötzlich hörte er hinter sich stapfende, schwere Schritte. Dann erklang ein grimmiges Brüllen, Jakobspürte einen Lufthauch und wirbelte im letzten Moment herum. Er riss die Augen auf, ließ den Mantelsack fallen und schnappte nach Luft. Direkt vor ihm, nur eine Armlänge entfernt, stand ein ausgewachsener Bär.
    Einen Moment war Jakob wie gelähmt. Er starrte den Bären an, sah das zottelige Fell, den stämmigen Körper, die Füße mit den gewaltigen, scharfen Krallen, die breiten, kräftigen Schultern, die kurzen, aufgerichteten Ohren und die lange Schnauze, die der Bär weit aufgerissen hatte. Seine Zähne waren gelblichweiß, scharf wie Klingen und riesengroß. Jakob wusste, dass ihn der Bär mit einem einzigen Biss in den Nacken töten konnte.
    Auf einmal hob der Bär eine seiner gewaltigen Tatzen. Jakob erwachte aus seiner Erstarrung. Er wirbelte herum und stürmte geradewegs den Hang hinunter. Er sprang über Steine, Äste und Erdhügel. Er ruderte mit den Armen, hatte die Augen weit aufgerissen, sein Atem überschlug sich beinahe. Gräser peitschten um seine Beine, Zweige schlugen ihm ins Gesicht. Dicht hinter sich hörte er ein Schnaufen und Knurren. Äste knackten, Geröll löste sich. Der Bär war ihm auf den Fersen.
    Jakob sah weder nach rechts noch nach links. Erdrehte sich nicht um. Er dachte noch nicht einmal daran. Er rannte, rannte, rannte. Seine Knochen, die Muskeln, die Haut   – alles schmerzte. Jakob hatte das Gefühl, sein ganzer Körper stünde in Flammen. Bald würde ihm die Kraft ausgehen. Er würde ins Straucheln kommen. Er würde stürzen. Was dann?
    Ohne nachzudenken, rannte Jakob weiter bergab, er rannte um sein Leben.
    Der Bär folgte ihm mit Leichtigkeit. Ihm machten die Äste, Steine und Erdhügel nichts aus. Er war schneller als Jakob und kräftiger. Und er war hungrig. Der Abstand zwischen ihm und Jakob wurde immer kleiner. Der Bär holte mit der Tatze aus, verfehlte Jakobs Ferse nur haarscharf und brüllte enttäuscht.
    Schweiß rann Jakob über den Rücken. Er lief so schnell, dass sich seine Beine beinahe überschlugen. Er hatte die Kontrolle über sie
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