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DAS GLÜCK IM AUGENWINKEL: Roman (German Edition)

DAS GLÜCK IM AUGENWINKEL: Roman (German Edition)

Titel: DAS GLÜCK IM AUGENWINKEL: Roman (German Edition)
Autoren: Nancy Salchow
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wiederkehrende Gedanke, wie wir uns das letzte Mal voneinander verabschiedet haben. Die Wahrheit ist nämlich, dass ich mich nicht daran erinnern kann. Ich habe meist zu Hause gearbeitet, also war sie diejenige, die sich verabschiedet hat. Manchmal saß ich noch am Frühstückstisch, und sie gab mir einen Kuss. Manchmal rief sie mir ins Arbeitszimmer ein flüchtiges "Bis heute Nachmittag" hoch. Ich erinnere mich, dass ich an jenem Morgen nichts gegessen, sondern nur einen Kaffee getrunken habe. Aber so sehr ich mich auch bemühe, es will mir einfach nicht einfallen, wo, wie und ob wir uns voneinander verabschiedet haben. Die letzten Worte, die wir miteinander gewechselt haben. Eine Tatsache, die zeitweise so beherrschend war, dass ich Stunden damit verbracht habe, mir diese Worte ins Gedächtnis zu rufen. Aber bis heute hat es nicht funktioniert.
    Du fragst mich, wie es uns gelingen soll, uns von diesem Schicksalsschlag abzulenken, wenn wir uns gegenseitig nur umso mehr daran erinnern. Vielleicht ist die Antwort, dass wir uns gar nicht ablenken müssen, sondern dass wir uns dabei helfen, die Wege zu erweitern? Wege, die nicht abseits unserer Erinnerungen verlaufen, sondern uns die Möglichkeit geben, sehr viel mehr Dinge zu sehen. Dinge, die unsere Erinnerungen, aber auch Hoffnungen einschließen. Dinge, die eng mit unserer Vergangenheit verknüpft sind, aber auch Dinge, die uns ein klein wenig Zukunft zurückgeben - eben weil wir gemeinsam vielleicht mehr Kraft haben, das Geschehene zu verarbeiten.
    Passt unser Kontakt noch immer in dein Schema "Hauptsache, es tut gut"? Denn ich muss zugeben: Dir zu schreiben tut gut. Es tut gut zu wissen, dass meine Worte nicht im Nichts verschwinden. Dass sie aufgefangen werden. Von dir. Und wer könnte mich besser verstehen?

    Simon

    *

    Geht es dir wirklich so sehr darum, dass ich dich verstehe, Simon? Warum wollen die Menschen nur immer verstanden werden? Liegt der viel größere Reiz nicht darin, ein Rätsel zu bleiben?
    Ich habe in der letzten Zeit gemerkt, dass es mir gefällt, ein Rätsel zu sein. Am liebsten eines, das so verzwickt und undurchsichtig ist, dass sich mit der Zeit niemand mehr die Mühe macht, es zu lösen. Natürlich gibt es Menschen, die meine Nähe suchen, ohne mein Verhalten entschlüsseln zu wollen. Sie sind einfach bei mir, weil sie es für richtig oder für ihre Pflicht halten. Meine Freundin Claudia zum Beispiel. Sie hat sich nie die Mühe gemacht, mich zu verstehen, sondern ihre gesamte Energie stets darauf verwendet, mich in eine bestimmte Richtung zu lenken. In ein neues Leben, in dem Patrick nur eine untergeordnete Rolle spielt. Sie nennt das Ganze "gut mit mir meinen" - und sicher ist es auch das, was sie glaubt. Doch in Wahrheit ist dieses Verhalten wieder einmal nur das, was einem die Allgemeinheit als normal vorgaukeln will. Weil es eben normal ist, dass man irgendwann vergisst. Dass man ausblendet. Dass man hinter sich lässt. Vorzugsweise Dinge, die nicht mehr existieren. Oder in meinem Fall: Menschen, die nicht mehr existieren.
    Und am Ende eines jeden Abends sage ich mir: Nein! Vielleicht ist es nicht normal, nicht einfach so weitergehen zu wollen. Aber vielleicht ist gerade das das Schöne an allem: nicht normal sein zu müssen . Ich muss ihn nicht vergessen. Ich muss ihn nicht ausblenden. Ich muss nicht einmal so tun. Solange es mir gelingt, nach außen hin die Fassade der trauernden Witwe zu wahren, die ihren Alltag meistert und sogar wieder ihrem Job nachgeht, kommt niemand auf die Idee, dass ich im stillen Kämmerlein ganz und gar nichts meistere, sondern mich kampflos den Erinnerungen hingebe. Tag für Tag. Nacht für Nacht. Weil ich es so will. Weil ich es anders nicht ertrage. Weil ich weiß, dass ich es Patrick schuldig bin, das Bild von ihm am Leben zu halten.

    Nita

    *

    Liebe Nita,
    in einem muss ich dir widersprechen. Ich denke nicht, dass du es Patrick schuldig bist, dich ganz und gar den Erinnerungen an ihn hinzugeben. Genauso wenig, wie ich es Emma schuldig bin. Der einzige Grund, warum ich mich immer wieder darin verliere, ist die Unfähigkeit, es nicht zu tun. Aber nicht einen Moment habe ich geglaubt, dass ich es ihr schuldig bin, mich ausschließlich ihr zu widmen. Ich weiß, dass Emma das nicht gewollt hätte. Dass sie alles daran gesetzt hätte, dass ich mein Leben ohne sie weiterlebe. Dass ich nach vorne schaue.
    Vielleicht macht es mir dieses Wissen umso schwerer, mich nicht in den Erinnerungen zu verlieren. Weil
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