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Das gefrorene Licht. Island-Krimi

Das gefrorene Licht. Island-Krimi

Titel: Das gefrorene Licht. Island-Krimi
Autoren: Yrsa Sigurðardóttir
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aus hauchdünnem Porzellan mit einem zierlichen Griff, der in Jónas’ großen Händen noch fragiler wirkte. Jónas war alles andere als feingliedrig, von kräftiger Statur, jedoch nicht fett, und wettergegerbt; seine ganze Erscheinung ließ darauf schließen, dass es sich um einen Mann handelte, der an Bord eines Fischkutters Kaffee aus einem Becher hinunterkippt, anstatt nach der Yogastunde an einem Damentässchen mit ungenießbarem Kräutertee zu nippen.
    Dóra rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. Sie waren in Jónas’ Büro im Hotel, und ihr Rücken schmerzte nach der langen Fahrt. An diesem Freitag war viel Verkehr gewesen, und zu allem Überfluss hatte sie auf dem Weg aus der Stadt auch noch die Kinder zu ihrem Vater nach Garðabær fahren müssen. Die Autos waren vorwärtsgekrochen, und es hatte ganz den Anschein, als führen alle Hauptstadtbewohner denselben Weg. Obwohl dies eigentlich kein Papa-Wochenende war, hatte Hannes sie gebeten, mit ihm zu tauschen, weil er nächstes Wochenende zu einem Ärztekongress ins Ausland fahren musste und die Kinder nicht nehmen konnte. Daher hatte Dóra beschlossen, Jónas beim Wort zu nehmen und das Wochenende in dem Esoterik-Hotel in Snæfellsnes zu verbringen. Sie wollte die Chance nutzen und sich erholen, eine Massage und die Entspannung genießen, die Jónas ihr versprochen hatte. Der Hauptzweck der Reise war jedoch, ihm die Schadenersatzansprüche wegen Spukerscheinungen auszureden. Dóra wollte das Gespräch so schnell wie möglich beenden, ihr Zimmer beziehen und ein Nickerchen machen. »Sie wird schon wieder auftauchen«, sagte sie ins Blaue hinein. Dóra kannte die Architektin überhaupt nicht; die Frau hätte ebenso gut eine hysterische Alkoholikerin sein können, die abgestürzt war und sich die nächsten Wochen nicht blicken lassen würde.
    Jónas schnaubte. »Das sieht ihr gar nicht ähnlich. Wir wollten morgen die Entwürfe für das neue Gebäude durchsehen.« Er wühlte in irgendwelchen Papieren auf dem Tisch, offensichtlich verärgert über die Architektin.
    »Vielleicht hatte sie in der Stadt was zu erledigen?«, fragte Dóra und hoffte, er würde aufhören, über diese Frau zu reden. Die Schmerzen im Rücken zogen langsam hoch zu den Schultern.
    Jónas schüttelte den Kopf. »Ihr Auto steht vor dem Haus.« Er schlug mit beiden Händen gegen die Tischkante. »Aber was soll’s. Du bist jedenfalls hier.« Er lächelte Dóra zu. »Ich brenne darauf, dir von dem Spuk zu erzählen, aber das muss leider warten«, er schaute auf seine Armbanduhr und stand auf, »ich muss die Runde machen. Es gehört zu meinen Prinzipien, am Ende des Tages mit meinen Leuten zu reden. Ich kriege ein besseres Gefühl für den Betrieb und die Stimmung, wenn ich Probleme von Anfang an mitbekomme. Dann kann man besser eingreifen.«
    Dóra erhob sich erleichtert. »Ja, natürlich. Wir unterhalten uns dann morgen darüber. Mach dir keine Gedanken um mich. Ich bleibe das ganze Wochenende hier, und wir haben genug Zeit, die Sache zu besprechen.« Als Dóra sich ihre Handtasche über die Schulter hängte, bemerkte sie einen üblen Geruch und rümpfte die Nase. »Was ist das eigentlich für ein entsetzlicher Gestank?«, fragte sie Jónas. »Ich hab es schon draußen auf dem Parkplatz gerochen. Gibt’s hier in der Nähe eine Lebertranfabrik?«
    Jónas schnüffelte und atmete ein paar Mal rasch ein. Dann schaute er Dóra ausdruckslos an. »Ich rieche nichts. Wahrscheinlich habe ich mich schon an diesen Mief gewöhnt«, sagte er. »Unten am Strand ist ein Wal angespült worden. Je nachdem, wie der Wind steht, weht der Gestank hier rüber.«
    »Und jetzt?«, sagte Dóra. »Wartest du einfach, bis der Kadaver verwest ist?« Sie verzog das Gesicht, als der Geruch sich wieder bemerkbar machte. Wenn an dem Grundstücksverkauf irgendetwas in diesem Stil zu bemängeln wäre, damit könnte man wenigstens arbeiten.
    »Du gewöhnst dich dran«, sagte Jónas. Er nahm das Telefon und tippte eine Nummer ein. »Hi. Ich schicke Dóra zu dir. Zeig ihr das Zimmer und reservier ihr für heute Abend eine Massage.« Er verabschiedete sich und legte auf. »Komm mit zur Rezeption, ich habe dir eins der besseren Zimmer mit grandioser Aussicht geben lassen. Du wirst nicht enttäuscht sein.«
    Ein junges Mädchen begleitete Dóra auf ihr Zimmer. Sie war ziemlich schmächtig und reichte Dóra gerade mal bis zur Schulter. Es widerstrebte Dóra beinahe, sich von der Kleinen den Koffer tragen zu lassen, aber ihr blieb
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