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Das Foucaultsche Pendel

Das Foucaultsche Pendel

Titel: Das Foucaultsche Pendel
Autoren: Umberto Eco
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eines Erhängten. Ich fasste das verschwommene Bild etwas schärfer ins Auge: jetzt erkannte ich die Rue Vaucanson, die quer hinter dem Chor verlief, und die Rue Conte, die das Langschiff ideell verlängerte. Die Rue Conte mündete links in die Rue Montgolfier und rechts in die Rue de Turbigo, an der Ecke waren zwei Bars zu sehen, Le Weekend und La Rotonde, und gegenüber eine Fassade, auf der ich mühsam eine Schrift entzifferte, LES CREATIONS JACSAM.
    Das Periskop. Nicht ganz klar, wieso man es hier im Saal der Glasarbeiten aufgebaut hatte anstatt in dem der optischen Instrumente, offenbar war es wichtig, dass der Blick nach draußen an diesem Ort und mit dieser Perspektive erfolgte, aber ich verstand nicht, warum. Was sollte diese Zelle, diese positivistische Konstruktion a la Jules Verne, hier neben der emblematischen Evokation des Löwen und der Schlange?
    Jedenfalls, wenn ich die Kraft und den Mut aufbrachte, hier noch ein halbes Stündchen zu bleiben, würden die Wärter mich vielleicht nicht entdecken.
    Lange blieb ich so untergetaucht, es kam mir fast endlos vor. Ich lauschte auf die Schritte der Nachzügler, auf die der letzten Wärter. Ich war versucht, mich unter die Scheibe zu kauern, um einem eventuellen kurzen Blick zu entgehen, aber dann ließ ich es lieber bleiben, denn wenn ich aufrecht stand und sie mich entdeckten, würde ich eher so tun können, als wäre ich ein zerstreuter Besucher, der ganz versunken das Wunder genoss.
    Schließlich gingen die Lichter aus, und der Saal blieb im Halbdunkel. Mein Versteck wurde matt erhellt durch das Licht aus dem Bildschirm, den ich weiter betrachtete, da er nun meinen letzten Kontakt zur Welt darstellte.
    Vorsicht gebot mir, noch eine Weile zu warten, stehend oder, wenn mir die Füße wehtaten, hingekauert, mindestens noch zwei Stunden. Die Schließung des Museums fällt nicht mit dem Feierabend der Angestellten zusammen. Ein Schreck durchfuhr mich: und das Reinigungspersonal? Wenn sie jetzt kamen und anfingen, alles gründlich sauber zu machen, Stück für Stück? Dann überlegte ich: Das Museum öffnete morgens erst spät, sicher würden die Putzkolonnen lieber bei Tageslicht arbeiten als jetzt am Abend. So musste es sein, jedenfalls hier im Oberstock, denn ich hörte jetzt niemanden mehr. Nur ein fernes Summen, hin und wieder ein trockenes Geräusch, vielleicht eine Tür, die ins Schloss fiel. Ich musste ausharren. Es genügte, zwischen zehn und elf in die Kirche hinüberzugehen, vielleicht auch später, denn die Herren würden erst gegen Mitternacht kommen.
    In diesem Moment trat eine Gruppe Jugendlicher aus der Bar La Rotonde. Ein Mädchen ging durch die Rue Conte und bog in die Rue Montgolfier. Die Gegend war nicht sehr belebt, wie würde ich es hier aushalten, Stunden um Stunden die fade Welt betrachtend, die ich hinter mir hatte? Doch wenn sich das Periskop gerade hier befand, sollte es mir dann nicht Botschaften bringen, die eine tiefere Bedeutung hatten? Mir kam das Bedürfnis zu urinieren — nicht daran denken, das sind bloß die Nerven.
    Was einem alles so durch den Sinn geht, wenn man untergetaucht in einem Periskop steckt. So ähnlich muss es einem ergehen, der als blinder Passagier im Bauch eines Schiffes hockt, um nach Übersee zu emigrieren. Tatsächlich würde das Ziel meiner Reise die Freiheitsstatue sein, mit dem Diorama von New York. Sollte ich mir ein Nickerchen erlauben? Wäre vielleicht nicht schlecht. Nein, nachher wache ich zu spät auf ...
    Das Schlimmste wäre jetzt eine Nervenkrise — die Panik, wenn du meinst, gleich musst du schreien. Periskop, U-Boot, festgefahren am Meeresgrund, vielleicht umkreisen dich draußen schon große schwarze Tiefseefische, und du kannst sie nicht sehen, du weißt nur, du wirst bald keine Luft mehr kriegen ...
    Ich atmete mehrere Male tief durch. Konzentration. Das Einzige, was dich in solchen Momenten nicht im Stich lässt, ist die pedantische »Wäscheliste«, der Merkzettel. Zurück zu den Fakten, noch mal der Reihe nach alles durchgehen, die Ursachen von den Wirkungen trennen. Ich bin hier an diesem Punkt angelangt, weil das und das geschehen ist aus dem und dem Grund ...
    Langsam kamen mir die Erinnerungen wieder: klar, präzise und wohlgeordnet. Die Erinnerungen an die letzten drei hektischen Tage und an die letzten drei Jahre, vermischt mit denen aus der Zeit vor vierzig Jahren, wie sie mir Stück für Stück lebendig geworden waren, als ich Jacopo Belbos Elektronengehirn knackte.
    Ich
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