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Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin

Titel: Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
Autoren: Monika Felten
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führte ihn dicht an der Falknerei vorbei. Für einen kurzen Augenblick erwog er, noch einmal zum Fenster auf der Rückseite zu schleichen, um zu sehen, ob schon Jungvögel geschlüpft waren. Die Vorstellung war verlockend, die Gefahr, erwischt zu werden, jedoch nicht zu unterschätzen.
    Nur ein Blick!, schoss es ihm durch den Kopf. Ein ganz kurzer Blick konnte doch nicht schaden. Plötzlich verspürte er wieder das drängende Gefühl, das ihn in der Nacht geweckt hatte, aber die Drohung des Stallmeisters klang ihm noch deutlich in den Ohren, und er zögerte.
    Nur ein Blick!
    Wie von selbst bewegten sich Keelins Füße munter auf die Falknerei zu.
    Nur ein ganz kurzer Blick.
    Als er das Gebäude fast erreicht hatte, tauchten im Eingang zum Bruthaus zwei Rekruten auf. Mit vor Aufregung geröteten Gesichtern unterhielten sie sich über die gerade geschlüpften Falkenjungen. Sie gingen an Keelin vorbei, ohne ihn zu beachten.
    »… stell dir vor, ich habe den Namen in meinen Gedanken gehört«, rief einer von ihnen aus. »Er heißt Akal. Er kam sofort auf mich zu und hat keinen anderen …« Mehr verstand Keelin nicht. Die Rekruten schienen es eilig zu haben und waren schon zu weit entfernt. Doch die wenigen Gesprächsfetzen, die er mitbekommen hatte, reichten aus, um den Eifer des Fünfzehnjährigen erneut zu entfachen. Die Wahl war also noch nicht vorbei. Keelin klopfte das Herz bis zum Hals.
    Ungeachtet der angedrohten Strafe wandte er sich nach rechts, um die Falknerei zu umrunden, aber kaum hatte er die Hälfte der Strecke zurückgelegt, hörte er schnelle Schritte hinter sich. Jemand keuchte, dann spürte er eine Hand auf der Schulter, die ihn zurückhielt.
    »Warte, Bursche!«
    Keelin erschrak. Im ersten Augenblick fürchtete er, der Stallmeister habe ihn erneut erwischt, doch als er sich umdrehte, erkannte er einen der beiden Rekruten, die soeben aus der Falknerei gekommen waren. Er hatte schulterlanges schwarzes Haar und ein strenges Gesicht mit schmalen Augen. Obwohl er kaum älter war als Keelin, herrschte er ihn an: »Hör zu, Kleiner, ich habe mein Kurzschwert im Bruthaus liegen gelassen, und ich kann es jetzt nicht holen. Deshalb wirst du das für mich tun. Wenn dich einer anspricht, gib vor, dass du nachschauen sollst, ob die brütenden Falken noch ausreichend Atzung haben. Verstanden?«
    »Ja, Herr.« Keelin nickte. Gewöhnlich hätte er den selbstgefälligen jungen Raiden mit einer schnippischen Bemerkung stehen lassen und wäre einfach davongelaufen. Doch der Gedanke, ins Bruthaus zu gehen, war so verlockend, dass er diesmal gern den eingeschüchterten Stallburschen spielte.
    »Das Kurzschwert liegt auf dem Sims unter dem Fenster gleich neben der Tür. Nimm es unauffällig an dich und bring es mir«, erklärte der angehende Falkner noch, dann versetzte er Keelin einen unsanften Stoß und sagte barsch: »Los, lauf! Und wehe, du lässt dich erwischen. Wenn das geschieht, werde ich dich des Diebstahls bezichtigen. Ist das klar?«
    Keelin nickte wieder. Die Waffe zu vergessen war ein Fehler, der einem Rekruten nach dem ersten Ausbildungswinter nicht mehr unterlaufen durfte. Unachtsamkeit war etwas, das die Heermeister ganz und gar nicht schätzten. Es zeugte auch keineswegs von Heldenmut, einen anderen zu schicken, um das eigene Versagen zu vertuschen. Doch Keelin war klug genug, diese Gedanken für sich zu behalten. So deutete er nur eine leichte Verbeugung an und schlüpfte durch die Tür der Falknerei.
    Der Weg zum Bruthaus war leicht zu finden. Keelin war schon ein paar Mal in der Falknerei gewesen, um Botengänge zu erledigen. In einem unbeobachteten Moment hatte er sich sogar schon vor den runden, steinernen Tisch gestellt und sich ausgemalt, wie es wohl sein mochte, hier auf ein geschlüpftes Jungtier zu warten.
    Im Bruthaus war es drückend warm. Die dicken Lehmziegel speicherten die sommerliche Hitze, die seit Tagen in Nymath herrschte, und sorgten dafür, dass es auch in kühlen Nächten angenehm warm blieb. Der beißende Geruch von Atzung und Kot stand in der Luft, doch was für andere abstoßend wirkte, empfand Keelin als angenehm und aufregend. So roch es nur in der Falknerei, dem einzigen Ort der Bastei, dem er sich tief verbunden fühlte und nach dem sich sein Herz vom ersten Tag an sehnte.
    Leise schob er sich durch die offen stehende Tür des Bruthauses und blickte halb verwundert, halb belustigt auf das merkwürdige Schauspiel, das sich ihm dort bot. Mehr als ein halbes Dutzend angehender
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