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Das Auge der Fatima

Das Auge der Fatima

Titel: Das Auge der Fatima
Autoren: Franziska Wulf
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»Fidawi?«
    »Ich weiß es nicht«, antwortete Ali. »Aber eines ist sicher, Hirten waren sie nicht. Wenigstens nicht der Mann.« Geistesabwesend klopfte er dem Ziegenbock den Rücken. »Kluges Tier.«
    »Dir hätte etwas mehr Klugheit auch gut zu Gesicht gestanden«, sagte Beatrice. »Du hättest viel vorsichtiger sein sollen.«
    »Vielleicht hast du Recht. Aber wenn die beiden tatsächlich Fidawi waren, kennen sie mich bereits. Dann wollten sie sich nur vergewissern, dass dies hier wirklich mein Haus ist, bevor sie losschlagen. Nun wissen sie es. Ich werde Wachen aufstellen lassen.«
    Beatrice holte tief Luft. Die Angst pochte in ihr, sie fühlte ihren Herzschlag bis in die Fingerspitzen. Sie dachte an alles, was sie über die Fidawi gehört und gelesen hatte - die Informationen im Internet, die Furcht des Karawanenführers, die panische Angst in Maleks Stimme, als sie diese Leute ihm gegenüber das erste Mal erwähnt hatte. Wenn diese beiden wirklich Fidawi waren, dann würden Wachen bestimmt nicht viel nützen.
    Mustafa brauchte keine Ermahnungen mehr, still zu sein. Wie in Trance ging er neben Meister Osman her, der seinerseits ungewöhnlich gesprächig war. Der Gedanke, den verhassten Frevler endlich ausfindig gemacht zu haben, schien die Zunge des Meisters förmlich zu beflügeln. Mustafa dachte nach. Sein Verstand arbeitete langsam und schwerfällig, und es strengte ihn an, sich zu konzentrieren, während der Meister direkt neben ihm unablässig über die Großmut Allahs und die Todsünden der Frevler sprach.
    Er hatte das Brandzeichen im zottigen Fell des Ziegenbocks sofort erkannt. Vermutlich hätte er es sogar mit geschlossenen Augen ertasten können. Alle Ziegen, die jemals in seinem Heimatdorf geboren worden waren, trugen dieses Zeichen. Und noch während er sich gefragt hatte, wie ein Bock aus seinem Heimatdorf in das Haus dieses Arztes kam, hatte al-Hussein die Geschichte von dem Hirten und seinem kranken Sohn erzählt. Die Geschichte seines Vaters! Sein eigener Vater war der arme Hirte, der dem Arzt aus Dankbarkeit das Zicklein gebracht hatte. Und der kranke Junge war niemand anderer als sein Bruder gewesen. Genau in diesem Augenblick hatten seine Zweifel begonnen.

    Jetzt nagten sie an ihm, fraßen sich durch seinen Leib und brannten ein Loch in seinen Schädel. Es war klar, dass Meister Osman vorhatte, al-Hussein, den er für einen gefährlichen Ketzer hielt, zu töten. Deswegen hatten sie schließlich den Weg von Alamut nach Qazwin auf sich genommen, dafür waren sie Fidawi geworden, das war ihr vom Großmeister persönlich erteilter Auftrag. Aber war dieser Mann wirklich ein Frevler? Er hatte immerhin seinen Bruder geheilt und von seinem Vater noch nicht einmal Lohn gefordert. Gut, es war viele Jahre her, und Menschen konnten sich auch zum Schlechten hin verändern, doch Mustafas Vater schwärmte noch heute von der Güte und der Weisheit dieses Arztes. Und auch heute hatte er ihnen einen Rat gegeben, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. War dieser Mann nur deshalb ein Frevler, weil er all diese Bücher las? Hatte der Dienst am Menschen, das Heilen von Kranken nicht mindestens ebenso viel Gewicht, war ebenso wertvoll wie der Dienst der Fidawi? War dieser Mann, dieser Arzt, nicht ebenso ein treuer Diener Allahs wie sie? Durften sie so einen Mann töten? Und vor allem, durfte er, dessen Familie al-Hussein zu Dank verpflichtet war, an seinem Tod mitschuldig werden? War das Töten von Menschen nicht in Wirklichkeit Mord - ein Verbrechen, das Allah zutiefst verabscheute? Stellten sie sich selbst, indem sie sich des Mordes als Mittel bedienten, nicht auf dieselbe Stufe wie die abscheulichsten, ehrlosesten Verbrecher? Das alles kreiste in Mustafas Kopf herum, zerrte an seinen Nerven und ließ seinen Magen revoltieren. Immer wieder wog er seine Gedanken und Gefühle gegen das ab, was er bei seiner Weihe geschworen hatte - Allah zu dienen bis zum Tod und dem Großmeister bedingungslos zu gehorchen. Es war, als würden zwei Mustafas zur selben Zeit in ihm wohnen und einen Ringkämpf um seine Seele austragen. Doch als sie schließlich die Moschee erreicht hatten, wo sie nach dem Willen des Meisters die Zeit bis zum Abend im Gebet verbringen wollten, war er endlich zu einem Ergebnis gekommen.
    Schweigend nahmen sie ihr Mittagessen ein. Selbst Michelle, die für gewöhnlich plapperte wie ein Wasserfall, war erstaunlich still. Beatrice kam sich vor, als würde sich Alis Haus im Belagerungszustand befinden.
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