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Das achte Tor

Das achte Tor

Titel: Das achte Tor
Autoren: bottero
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Schlaf-stadt für viele Menschen, die in Marseille arbeiteten, und ein Arbeitsviertel für zahlreiche andere, die außerhalb wohnten. Gegen Ende des Tages nahm das Hin und Her der Pendler manchmal Formen der New Yorker Rush-hour an. Die Fortbewegung auf einem Zweirad war die mit Abstand beste Lösung, wenn man es schaffte, es sich nicht klauen zu lassen.
    Als sie ihre Wohngegend erreichte, fing der Roller an zu stottern. Er fuhr noch ein paar Meter, ging dann aus und weigerte sich, wieder anzuspringen. Shaé stieg ab und trat wütend gegen das Vorderrad. Sie warf die schwarze Strähne, die ihr ins Gesicht hing, nach hinten und setzte sich erschöpft auf eine kleine Mauer am Rand des Gehsteigs. Sie war so erledigt, dass die Farben um sie herum zu einem grauen Nebel verschmolzen und die Geräusche der Stadt wie durch einen Wattebausch an ihr Ohr drangen.
    Sie war immer noch durstig.
    Für eine Sekunde hatte sie die Vision, aufzustehen, ih-re Schultasche in den Rinnstein zu werfen und loszulau-fen. Einfach geradeaus. Nirgendwo konnte es schlimmer sein als hier. Dann überfiel sie wieder die Müdigkeit, und sie stöhnte. Sie hatte oft diesen Traum, alles stehen und liegen zu lassen und ein Abenteuerleben zu führen. Aber sie hatte nie den Mut gehabt, ihn wahr zu machen.
    Obwohl sie davon überzeugt war, dass niemand sie vermissen würde. Ihre Pflegeeltern waren für sie nur Aufpasser mit eigenartigen Motivationen. Sie hatten sich ihrer angenommen – und nur sie wussten, weshalb –, nachdem ihre Eltern bei diesem Autounfall, über den 55

    niemand mit ihr reden wollte, ums Leben gekommen waren. Ihr Verhältnis zu ihnen war schwierig und wurde zunehmend konfliktreicher. Es war ihr bewusst, dass sie ungeduldig darauf warteten, dass sie erwachsen wurde und auszog.
    Keine Eltern, keine Freunde, keine Pläne, nur das Etwas und der Durst. Ganz schön viel für ein junges Mädchen, nicht wahr?
    »Das stimmt, aber andererseits bist du auch verdammt stark.«
    »Was? Was haben Sie gesagt?«
    Erschrocken sah Shaé den Mann an, der plötzlich neben ihr saß. Sie hatte ihn weder kommen sehen noch gemerkt, wie er sich hingesetzt hatte. Ein alter Araber in traditioneller Kleidung, weiße Dschellaba und Fes, gegerbte Haut und Augen so blau und tief wie ein Bergsee.
    Das Blau der Berber.
    »Reden Sie mit mir?«, hakte Shaé nach.
    Der Mann nickte und lächelte sanft.
    »Was haben Sie noch mal gesagt?«
    Shaé schlug das Herz bis zum Hals. Hatte dieser alte Mann ihr auf eine Frage geantwortet, die sie gar nicht laut gestellt hatte?
    »Ich sagte, es ist sehr heiß für die Jahreszeit, und du wirst durstig sein, Mädchen.«
    Shaé spürte, wie ihr ein langer beunruhigender Schauer über den Rücken lief. Es war November, und es war nicht heiß. Überhaupt nicht. Auf welche Art von Durst spielte dieser Typ denn an?
    »Ich …«
    Er legte ihr die Hand auf die Schulter. Eine sanfte Ge-56

    ste voller Respekt. Aber da sie es nicht ertrug, dass irgendjemand sie berührte, blieb sie steif und schwieg.
    »Kämpfen macht durstig«, fuhr er fort. »Kein Getränk kann diesen Durst löschen. Kampfesdurst. Ist dir bewusst, dass nichts dich zu diesem Kampf zwingt? Du kannst auch ebenso versuchen zu verstehen.«
    Mit einem energischen Ruck befreite sich Shaé von der Hand auf ihrer Schulter und dem ozeanblauen Blick.
    »Ich kapiere kein Wort von Ihrem Geschwafel«, entgegnete sie aggressiv.
    Der alte Berber erhob sich leicht wie ein junger Mann.
    Er lächelte immer noch.
    »Das Verständnis ist ein Weg, der viel reicher ist als der Kampf«, sagte er noch, bevor er sich abwandte und mit langsamen Schritten davonging. »Such nicht den falschen Weg.«
    Shaé sah ihm hinterher, bis er um die Ecke bog.
    »Total bescheuert«, murmelte sie.
    Dann stand sie auf, nahm ihren Motorroller und schob ihn nach Hause.
    Sie konnte machen, was sie wollte – die Worte des alten Mannes gingen ihr nicht aus dem Kopf. Sie hatte ihn noch nie in der Gegend gesehen, und dabei schien er sie seit ewigen Zeiten zu kennen. Und seine Worte, seine Andeutungen – war er tatsächlich verrückt?
    In dem Moment, als sie die Wohnungstür aufsperrte, bemerkte sie, dass sie nicht mehr durstig war.

    57

8
    ie scharfen Krallen und das mit Fangzähnen be-D stückte, vor Geifer triefende Maul des Werwolfs versprachen nichts weniger als den Tod. Eine perfekte Tötungsmaschine. Einen kurzen Moment beobachtete er seine Beute, die mit schlotternden Armen und weichen Knien vor ihm stand, dann
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