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Carre, John le

Carre, John le

Titel: Carre, John le
Autoren: Smileys Leute oder Agent in eigener Sache (Smiley Bd 7)
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ließen, bei der ordentlichen Formulierung
ihres Falles behilflich war.
    Und
sie sprach mit niemanden darüber, nicht einmal mit ihren nächsten Verwandten -
der nächste war ohnehin nicht besonders nah. Die Warnung des Rothaarigen klang
ihr Tag und Nacht in den Ohren: Die geringste Indiskretion, und Ihre Tochter
kommt nicht frei.
    Und
an wen, außer an Gott, konnte sie sich schließlich wenden? An ihre
Halbschwester Valentina, die in Lyon lebte und mit einem Autohändler
verheiratet war? Allein beim Gedanken, daß die Ostrakowa mit einem Beamten des
Moskauer Geheimdienstes zusammengekommen war, würde Valentina nach ihren Riechsalzen
greifen müssen. In einem bistrot, Maria? Am hellichten Tag, Maria?
Ja, Valentina. Und was er gesagt hat, ist wahr. Ich habe eine uneheliche
Tochter von einem Juden.
    Am
meisten setzte ihr die Ereignislosigkeit zu. Wochen vergingen; in der Botschaft
hieß es, ihr Antrag werde in »wohlwollende Erwägung« gezogen; die französischen
Behörden hätten versichert, daß Alexandra sich rasch um die französische
Staatsbürgerschaft werde bewerben können. Der rothaarige Fremde hatte die
Ostrakowa überredet, Alexandras Geburt rückzudatieren, so daß das Kind als eine
Ostrakowa und nicht als eine Glikman gelten könne; er sagte, die französischen
Behörden würden dies akzeptabler finden; und das traf anscheinend zu, obwohl
sie damals bei ihren eigenen Einbürgerungsgesprächen nie die Existenz einer
Tochter erwähnt hatte. Nun waren plötzlich keine Formulare mehr auszufüllen und
keine Hürden mehr zu nehmen, und die Ostrakowa wartete, ohne zu wissen,
worauf. Auf das Wiederauftauchen des rothaarigen Fremden? Es gab ihn nicht
mehr. Im Konsum eines Schinkenomeletts mit frites, einiger Biere und
zweier Stücke knusprigen Brots hatten sich seine existentiellen Bedürfnisse
offenbar erschöpft. Sie konnte sich nicht vorstellen, in welcher Beziehung er
zur Botschaft stand. Er hatte gesagt, sie solle sich dort einfinden, sie sei
bereits angemeldet, was gestimmt hatte. Aber wenn sie auf »Ihren Mitarbeiter«
anspielte oder deutlicher auf »Ihren großen blonden Mitarbeiter, der mich an
Sie verwiesen hat«, begegnete sie nur lächelndem Unverständnis.
    So
hörte allmählich das, worauf sie wartete, zu existieren auf. Zuerst war es vor
ihr gewesen, jetzt lag es hinter ihr, und sie hatte nicht gespürt, wann es
vorbeiging, den Augenblick der Erfüllung. War Alexandra schon in Frankreich
angekommen? Die Ostrakowa hielt dies langsam für möglich. Mit einem für sie
neuen und untröstlichen Gefühl der Enttäuschung musterte sie die Gesichter der
jungen Mädchen auf der Straße und fragte sich, wie Alexandra wohl aussehen
möge. Wenn sie nach Hause kam, fiel ihr Blick automatisch auf den
Dielenteppich, in der Hoffnung, eine handgeschriebene Nachricht oder einen pneumatique vorzufinden: »Mama, ich bin da. Ich wohne im Soundso-Hotel ...« Ein
Telegramm mit der Flugnummer: Eintreffe Orly morgen, heute abend; oder war es
nicht Orly, sondern Roissy-Charles de Gaulle? Sie kannte sich in Fluglinien
nicht aus, ging also in ein Reisebüro, nur um zu fragen. Beides war möglich.
Sie erwog sogar, sich die Kosten für einen Telefonanschluß vom Herzen zu
reißen, nur damit Alexandra sie anrufen könne. Aber was um alles in der Welt
erwartete sie sich eigentlich nach all den Jahren? Tränenreiche
Wiedervereinigung mit einem Kind, mit dem sie nie vereint gewesen war?
Nostalgisches Wiederknüpfen eines Familienbandes, das sie vor mehr als zwanzig
Jahren bewußt durchschnitten hatte? Ich habe kein Recht auf das Mädchen,
verwies sie sich streng; ich habe nur Schulden und Pflichten. Sie fragte in der
Botschaft nach, aber dort wußte man auch nicht mehr. Die Formalitäten seien
erfüllt, hieß es. Mehr wüßten sie nicht. Und wenn sie, Ostrakowa, nun ihrer
Tochter Geld schicken wollte? fragte sie listig - für den Flug zum Beispiel
oder das Visum? - könne man ihr vielleicht eine Adresse geben, eine Stelle
benennen, über die Alexandra zu erreichen sei?
    Wir
sind kein Postamt, lautete der Bescheid. Die plötzliche Frostigkeit
erschreckte die Ostrakowa, sie ging nicht mehr hin. Darauf machte sie sich
wieder Gedanken um die paar verwischten Fotos, die alle gleich waren, und die
man ihr zum Anheften an die Formulare gegeben hatte. Diese Fotos waren alles,
was sie je zu Gesicht gekriegt hatte. Sie wünschte, sie hätte Kopien davon
machen lassen, doch das war ihr gar nicht in den Sinn gekommen. Törichterweise
hatte sie
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