Brown, Dale - Patrick McLanahan - 09 - Mann gegen Mann
Offiziellen salutierten, trat eine ganz in Schwarz gekleidete Frau, die unter ihrem schwarzen Biberpelzhut einen schwarzen Schleier trug, aus der Reihe der Wartenden und berührte den Sarg in stummem Gruß sanft mit beiden Händen, als wolle sie den darin Liegenden nicht stören, aber doch in der Heimat willkommen heißen.
Dann verwandelte ihre Trauer sich plötzlich in Zorn. Sie stieß einen lauten Schmerzensschrei aus, der wie ein Schuss durch die eisige Winternacht hallte. Sie stieß die Soldaten beiseite, packte mit behandschuhten Händen die Flagge der Russischen Föderation, riss sie vom Sarg, schleuderte sie zu Boden und legte laut schluchzend ihre rechte Wange auf den glatten grauen Sargdeckel. Ein junger Mann, groß und ebenfalls in Schwarz, hielt ihre bebenden Schultern umfasst und zog sie schließlich von dem Sarg weg, der nun zu dem bereitstehenden Leichenwagen gerollt wurde. Der junge Mann bemühte sich, die Frau zu stützen und zu trösten, während er sie zu ihrer Limousine führte, in der weitere Angehörige warteten, aber sie stieß ihn von sich weg. Die Limousine fuhr davon und ließ den jungen Mann zurück. Der Führer der Eskorte hob die Flagge von dem schneebedeckten Vorfeld auf, legte sie rasch zusammen und gab sie dem Chauffeur einer der wartenden Limousinen, als wisse er nicht recht, was er jetzt damit tun sollte.
Der junge Mann blieb allein zurück. Er beobachtete, wie die übrigen 16 Särge aus dem Laderaum gerollt und in die bereitstehenden Leichenwagen verladen wurden, und ignorierte den stärker werdenden Schneefall, bis alle Leichenwagen weggefahren und Ehrenformation und Militärkapelle abgerückt waren. Keiner der Angehörigen sprach mit den Regierungsvertretern, die ihrerseits nicht das Gespräch mit den Angehörigen suchten. Sobald der letzte Leichenwagen wegfuhr, kehrten die Regierungsvertreter zu ihren Dienstwagen zurück.
Der junge Mann sah, dass er nicht allein war. In seiner Nähe stand ein hoch gewachsener, distinguiert aussehender älterer Herr, der zu einem luxuriösen Mantel aus Seehundfell eine schwarze Biberpelzmütze trug. Er weinte hemmungslos, ohne sich seiner Tränen zu schämen. Als ihre Blicke sich im Schneetreiben begegneten, trat der Ältere höflich nickend auf den jungen Mann zu. »Spakoinyi otschi, bratam« , sagte er zur Begrüßung. »K sasheleniju. Kak djela?«
»Mir ist’s schon besser gegangen«, antwortete der jüngere Mann. Er verzichtete darauf, dem anderen zur Begrüßung die Hand zu geben.
»Gestatten Sie mir, Ihnen mein Beileid auszusprechen«, sagte der Ältere. »Ich bin Doktor Pjotr Wiktorowitsch Fursenko. Auch mein Sohn Gennadij Petrowitsch ist im Kosovo gefallen.«
»Mein Beileid«, murmelte der junge Mann. Sein Blick zeigte, dass ihm der Name Fursenko etwas sagte.
»Danke. Er war Leutnant, einer der Sicherheitsoffiziere. Er war erst acht Monate beim Militär und nur zwei Wochen im Kosovo.« Als der junge Mann sich nicht weiter dazu äußerte, fragte Fursenko: »Vermute ich richtig, dass Oberst Kasakow, der Kommandeur des Luftlandebataillons, Ihr Vater war?« Der junge Mann nickte. Dr. Fursenko machte eine Pause und sah den jungen Mann an, als erwarte er, dass er sich vorstellen würde, aber der andere blieb stumm. »Und das war Ihre Mutter, nicht wahr?« Wieder nichts. »Mein Beileid gilt auch ihr. Ich muss gestehen, dass ich nicht anders kann, als ihre Gefühle zu teilen.«
»Ihre Gefühle?«
»Ihren Zorn auf Russland, auf den Zentralen Militärausschuss, den Zustand unseres Landes im Allgemeinen«, sagte Fursenko. »Wir scheinen nichts mehr richtig machen zu können, wir sind nicht einmal imstande, unseren Brüdern zu helfen, ihre Herrschaft über eine winzige Balkanprovinz zu behaupten.«
Der jüngere Mann musterte Fursenko. »Woher wissen Sie, dass ich kein Sicherheitsbeamter oder MWD-Offizier bin, Doktor?«, fragte er. In der Russischen Föderation war der MWD, das Innenministerium, für Inlandsaufklärung, Spionageabwehr und landesweite Polizeieinsätze zuständig. »Ihre Bemerkungen von vorhin könnten Ihnen ein Ermittlungsverfahren einbringen.«
»Das ist mir egal – sollen sie gegen mich ermitteln, mich einsperren, mich umbringen«, sagte Fursenko hörbar verzweifelt. »Sie verstehen sich zweifellos besser darauf, die eigenen Leute umzubringen, als ihre Soldaten im Kosovo oder in Tschetschnja zu schützen.« Der junge Mann lächelte über diese Bemerkung. »Mein Forschungszentrum ist geschlossen worden, die
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