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Brombeersommer: Roman (German Edition)

Brombeersommer: Roman (German Edition)

Titel: Brombeersommer: Roman (German Edition)
Autoren: Dörthe Binkert
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nicht: Edith, da bist du. Wie schön! Lass dich ansehen! Stattdessen sagte er: »Wir müssen nach Emst rauf. Das ist ziemlich weit.«
    Da hob sie den Kopf, und erst jetzt sahen sie sich in die Augen.

8
     
    Karl fand, es sei ein Glück, dass sie bei Tante Gertrud untergekommen waren. Aber Edith sagte, es sei schlimmer, bei missgünstigen Verwandten als bei bösen Fremden zu wohnen. Tante Gertruds Sohn war vermisst, ihr Mann in den letzten Tagen des Krieges gefallen. Sie hatten ihn noch ganz zum Schluss zum Volkssturm eingezogen, obwohl er im Ersten Weltkrieg schwer verwundet worden war und die linke Hand kaum gebrauchen konnte.
    Man hätte ihr vom Wohnungsamt auf jeden Fall Leute in die Wohnung gesetzt, meinte Edith, es sei ja keine Gnade, dass sie ihren Neffen und seine Verlobte aufgenommen hatte. Tante Gertrud führe sich aber auf, als müssten sie beide vor Dankbarkeit immerzu die Augen niederschlagen.
    Es sei eben schwer für die Tante, ein gesundes junges Paar vor Augen zu haben, erwiderte Karl, da sie selbst Kriegerwitwe und der eigene Sohn vielleicht tot sei. »Möchtest du jeden Tag die Suchmeldungen des Deutschen Roten Kreuzes hören und dabei zusehen, wie ein junges Paar sich küsst?«, fragte er.
    »So oft küssen wir uns nun auch nicht«, antwortete Edith gereizt, »und andere Leute warten auch auf Nachricht von ihren Angehörigen. Weiß ich denn, ob mein Vater noch lebt?«
    Karl fand ihre Bleibe trotzdem gemütlich, wenn man sie mit anderen Behausungen verglich. Immerhin hatten sie ein ordentliches Bett, in dem vor dem Krieg Tante Gertruds Sohn geschlafen hatte. Sie hatten das Bett mit einem Bettlaken vom Rest der Wohnküche abgeteilt, die natürlich auch von Tante Gertrud benutzt wurde. Sicher, sie stand enorm früh auf. Dann öffnete sie geräuschvoll die Tür, riss als Erstes das Fenster auf und kochte sich Zichorienkaffee oder was gerade so zu haben war. Sie war gewiss keine zurückhaltende Person, aber am Morgen hantierte sie besonders laut. Aus Schikane, behauptete Edith. Weil sie ein Morgenmensch ist, besänftigte Karl.
    Das Wohnzimmer war tabu, kleinbürgerlich noch im Untergang, wie Edith anmerkte. Aber an dem großen Küchentisch, den sie und Karl die meiste Zeit des Tages benutzen konnten, malten sie Postkarten, die sich erstaunlich gut verkauften oder eintauschen ließen. Eigentlich hatten sie viel Spaß dabei. Das musste Edith zugeben. Karl schrieb Verse in Kunstschrift, und Edith malte mit Wasserfarben eine Bildvignette dazu. Eine Rose zum Beispiel oder einen Blütenzweig.
    Edith liebte Heckenrosen. Die malte sie am häufigsten. Wenn sie die blassrosa Blütenblätter aufs Papier tupfe, die zarten Staubgefäße, sei es, so vertraute sie Karl an, als ob der Duft ihrer Kindheit diese fremde, zerstörte Welt zur Seite dränge und die vertrauten Zeiten wiederauferstehen. Die weite, in sanften Wellen dahinfließende Landschaft, die in der Sonne brütete, unter dem weiten Himmel, den sie hier vermisse. Das lichtbesprenkelte Pflaster der Alleen, zitternde Schemen, Stämme aus Birkenweiß. Sie höre diePferdewagen über die Wege rumpeln und den Wind, der durchs Korn ging. Höre die Kufen der Pferdeschlitten über den angefrorenen Schnee gleiten und den Pfiff der Kleinbahn, mit der sie zur Schule nach Königsberg gefahren war.
    Wenn Tante Gertrud nicht gerade die Türen ins Schloss fallen ließ, ein Geräusch, das Edith wahnsinnig machte, genossen sie und Karl diese Stunden, die ein Gefühl von Frieden über sie brachten.
    Einmal malte Edith das braune Huhn, das sie als Kind im Puppenwagen spazieren gefahren hatte. Es gackerte dabei, als wolle es im Korbwägelchen ein Ei legen, und Edith hatte ihre Mutter bekniet, dass es nie, nie geschlachtet werde. Aber die Postkarte mit dem Huhn kaufte niemand. »Vielleicht hättest du ein weißes Huhn malen sollen«, meinte Karl und stellte die Karte auf das Küchenregal, von wo sie eines Tages ins Abwaschwasser segelte. Die Farben zerflossen im Nu in der schmutzigen Brühe, und Edith weinte, weil das Huhn nun tot war und sie nie wieder, die Badesachen im blauen Stoffbeutel, mit der Kleinbahn nach Cranz fahren würde, um in der Ostsee zu baden und, auf dem Rücken im feinen Sand liegend, Wünsche in den dicken weißen Wolken zu verstecken.
    Eines Tages brachte Karl eine Landkarte mit, die er auf dem Schwarzmarkt gegen eine Zange eingetauscht hatte, die in Tante Gertruds Keller hinter eines der leeren Regale für Eingemachtes gefallen war. Er hatte seinen Fund
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