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Boccaccio. Der Dichter Des Dekameron.

Boccaccio. Der Dichter Des Dekameron.

Titel: Boccaccio. Der Dichter Des Dekameron.
Autoren: Hermann Hesse
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festhält. Ob sie in großen, volltönenden Reden schwelgt, ob sie schlicht und scheinbar nachlässig erzählt, oder ob sie in schalkhaft graziösen Wendungen mit sich selber spielt und Mutwillen treibt, sie ist immer von derselben sprudelnden Frische, Reinheit und Beweglichkeit, niemals lahm, niemals welk, sondern in jedem Augenblick elastisch, jugendlich und bei aller Zierlichkeit körnig und ursprünglich. An vielen Stellen läßt sich nicht verkennen, daß der Dichter ganz bewußt ein Schüler der lateinischen Klassiker, namentlich des Cicero ist; so liebt er zum Beispiel schöngebaute, lange, wohlgegliederte und oft fast prahlerisch und kokett verschlungene Perioden. Ist aber für die Tektonik der Sätze Cicero sein Vorbild gewesen, so schöpft er die Sprache selbst, die Worte und Bilder, unmittelbar aus der lebendigen lingua parlata der Gesellschaft, der Gassen und der Märkte. Und als Bestes kam sein eingeborenes, geniales Feingefühl dazu, das was erst einen Autor zum Dichter macht: der geheime Rhythmus, die souverän persönliche Freiheit von Konvenienz und Zopf, die Beseelung und Nuancierung der Worte, die prägnanten Neubildungen, der bei aller Mannigfaltigkeit schön und sicher in sich ruhende Stil.«

    Dieses einzigartige Bekenntnis zu Boccaccios Sprache veröffentlichte Hesse in seinem Essay Giovanni Boccaccio als Dichter des ›Dekameron‹, der am 28. Mai 1904 in der Frankfurter Zeitung erschien. Selten ist so über Boccaccios Sprache geschrieben worden, mit so viel nachtastendem Spürsinn, so viel innerer Aufnahmekraft für das Unmittelbare des dichterischen Wortes und zugleich mit so viel nachformender Kraft des deutenden Wortes. Was Hesse hier als Dichter über Boccaccios sprachliche Kunst äußert, hat der namhafte Boccaccio-Forscher Vittore Branca in seinen aufschlußreichen Erörterungen über die Tradition der mittelalterlichen Rhetorik in Boccaccios Prosa durch literarhistorische und ästhetische Präzisierung bestätigt. 19
    Um die sprachästhetische Flexibilität boccaccesker Perioden nachzuempfnden, empfehlt Hesse die Lektüre des Dekameron nur im Urtext, wenngleich er der deutschen Übersetzung von J. O. H. Schaum seine Anerkennung keinesfalls versagt. 20 Daß die Erzählungen des Dekameron auf antike, orientalische, ältere italienische Überlieferung, Trouvères, Lais und Anekdoten basieren, weiß Hesse durchaus; Mischung und Umformung zu neuen Strukturen bestimmen das Verhältnis des Dekameron zu seinen Vorbildern und Quellen. Trotzdem refektieren die Erzählungen – ungeachtet der Quellen – die Welt und Gesellschaftsstruktur des Florentiner Trecento, die aristokratische sowie plebejische Ideologie des städtischen Florenz. 21
    Über die Dekameron-Überlieferung, -Editionen und -Übersetzungen äußert Hesse sich in dem Essay der Frankfurter Zeitung nur spärlich. Nur ganz allgemein bezeugt er sein Interesse an der außerordentlichen Verbreitung des Dekameron, eigenmächtigen Text-Interpolationen, der verdienstvollen Textkritik und an Text-Emendationen in den sogenannten purgierten Editionen, die er folgerichtig aus der kirchlichen Zensur aufgrund antiklerikaler, frivol erotischer Tendenzen in den Novellen erklärt. 22 Geradezu dürftig sind Hesses Informationen über das Nachleben des Dekameron in der Literatur und Kunst. Erwähnung fndet nur Lessings »Ringparabel« nach dem Dekameron-Motiv I, 3, Dekameron-Motive bei Shakespeare und das nach der Novelle vom Basilikumtopf (IV, 5) entstandene berühmte Gemälde des englischen Malers und Buchillustrators John Everett Millais (1829–1896).
    Nach diesen Bemerkungen erörtert Hesse Konzeption, Form und Thematik der Novellensammlung und gibt eine anschauliche Darstellung der sogenannten »Rahmenhandlung«, nach der sich während der Pestepidemie (1348) vom Zufall gelenkt, aber durch familiäre bzw. freundschaftliche Beziehungen miteinander verbunden, sieben Frauen und drei Männer zusammenfnden (Pampinea, Fiammetta, Filomena, Emilia, Lauretta, Neifle, Elissa, Panflo, Filostrato, Dioneo) und auf einem Landgut außerhalb von Florenz ihren Aufenthalt verbringen mit Musik, Tanz und Spielen, insbesondere aber mit dem Reihumerzählen von je zehn Geschichten unter dem Vorsitz eines »Königs« oder einer »Königin«, die sich die Teilnehmer aus ihren Reihen wählen. Tabellarisch analysiert Hesse die Themen der Novellen des ersten bis zehnten Tages.
    Ähnlich eindrucksvoll wie Boccaccios Sprache interpretiert Hesse die Komposition und
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