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Blutland - Von der Leidenschaft gerufen

Blutland - Von der Leidenschaft gerufen

Titel: Blutland - Von der Leidenschaft gerufen
Autoren: Delilah S. Dawson
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nicht so, als würde ich bei der Arbeit auf irgendwelche heiratsfähigen Junggesellen treffen. Meine Patienten waren sämtlich über siebzig, bis auf einen, der war dreißig und lag im Koma.
    Ich breitete die Decken über Nanas dünne Ärmchen und ihren aufgeblähten Bauch und schenkte ihr mein strahlendstes Lächeln. Danach sorgte ich dafür, dass sie ihre Fernbedienungen hatte, ihr Buch mit den Kreuzworträtseln, Kuli, schnurloses Telefon und ihren »Ich bin gestürzt und kann nicht allein aufstehen«-Knopf.
    »Gute Nacht, Nana. Bis morgen früh. Ich hab dich lieb«, sagte ich.
    »Sag das nicht immer so, als würdest du es zum letzten Mal sagen«, grummelte sie mürrisch. »Irgend jemand außer mir muss schließlich so tun, als würde ich ewig leben.«
    »Du wirst ewig leben«, sagte ich. »Bis ich so alt bin wie du, und dann wirst du mir endlich beibringen, wie man deinen berühmten Schokoladenkuchen macht.«
    »Vielleicht«, meinte sie. »Wenn du brav bist.«
    Morgen früh um acht würde ich wieder bei ihr sein, um ihr aus dem Bett und in ihren elektrischen Rollstuhl zu helfen. Fast alles andere konnte sie noch selbst machen, und sie wollte ihre Unabhängigkeit nicht aufgeben und in ein Heim ziehen. Ich half ihr gerne. Als ich Jeff verlassen hatte, war sie die Erste, die ich anrief, in Tränen aufgelöst, von einer Telefonzelle aus, draußen in der klirrenden Kälte. Mein Handy hatte ich zurückgelassen, weil ich Jeff keine Möglichkeit hatte geben wollen, mich zu finden.
    »Komm einfach nach Hause, Tish«, hatte sie gesagt. »Wir Everett-Frauen stehen alles durch. Komm einfach nach Hause.«
    Und ich war nach Hause gekommen. Ein paar Wochen lang hatte ich bei ihr gewohnt, dann hatte sie mir Geld angeboten, um die Kaution für mein Apartment zu bezahlen. Es berührte mich, wie gut sie verstand, dass ich Raum für mich brauchte, um mich selbst wiederzufinden. Ich war abgebrannt, und sie hatte es als vorzeitiges Erbe bezeichnet. Seitdem hatten wir uns gegenseitig Halt gegeben und eine Beziehung voller Freundschaft und Zuneigung zueinander aufgebaut – mit einer Regel: Wir sprachen nie über ihre Krankheit und nie über meine Vergangenheit.
    Auf der Heimfahrt stöberte ich in meiner alten CD-Box. Ja gut, ich hatte einen ganzen iPod voll mit Musik, aber das war alles Zeug, das Jeff ausgesucht hatte; Lieder, die wir zusammen gehört hatten. Ich wollte meine alten Lieblingsstücke, Lieder, die mir das Gefühl gaben, stark und hübsch und wild und jung zu sein. Die Art Musik, die Jeff als unreif und einen Teil der »alten Tish« bezeichnet hatte. Ich kurbelte die Autofenster herunter, ließ die milde Luft der Frühlingsnacht herein und sang aus voller Kehle mit. Ich liebte den Wind in meinen Haaren und das Pochen des Medaillons gegen mein Herz im Rhythmus der Musik. Das hätte ihm auch nicht gefallen. Er hätte mich in diesem wehleidigen Tonfall gefragt, ob mir die Diamanten, die er mir geschenkt hatte, etwa nicht gut genug wären.
    Nö. Deshalb hatte ich sie auf meinem Weg nach draußen auch in den Müllschlucker gekippt und den Knopf gedrückt.
    Wieder in meinem kleinen Apartment, fühlte ich mich zum ersten Mal seit langer Zeit unbeschwert. Als wäre der Besitz des Medaillons ein Trost für mich, ein weiterer Ausdruck dafür, wer ich war. Ich mochte laute Musik. Ich kümmerte mich um meine Großmutter. Zuhause warteten ein gutes Buch und ein geretteter Kater namens Mr Surly auf mich. Zum Abendessen gab es Käsetoast und Tomatensuppe. Und ich hatte ein antikes Medaillon vom Dachboden meiner verstorbenen Patientin gestohlen.
    Während ich mich auszog und in meinen Pyjama schlüpfte, behielt ich das Medaillon um meinen Hals im Kommodenspiegel permanent im Blick. Ich wollte es nicht abnehmen. Die Tatsache, dass ich etwas hatte, das ich nicht haben sollte, hatte etwas Aufregendes für mich.
    Es war an der Zeit, es zu öffnen. Ich betastete den Rand auf der anderen Seite des Scharniers, konnte aber keine Schließe finden. Ich versuchte es mit den Fingern aufzubekommen, aber es gab nicht nach. Ich ging ins Badezimmer und versuchte es mit einer Nagelfeile aufzubrechen, so wie eine Muschel, doch das Ding war überhaupt nicht gewillt, seine Perle preiszugeben. Mr Surly sah mir vom Badezimmertresen aus zu. Sein Schwanz zuckte; er wirkte amüsiert.
    Mit einem müden Seufzen wedelte ich mit den Fingern vor dem Medaillon herum und sagte: »Medaillon, enthülle deine Geheimnisse!«
    Natürlich funktionierte das nicht. Solche Sachen
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