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Billard um halbzehn

Billard um halbzehn

Titel: Billard um halbzehn
Autoren: Heinrich Böll
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muß das sein, so plötzlich?«; und er hatte es nicht ausgesprochen, nur gedacht: ›Es muß sein, so plötzlich, die Zeit ist reif‹, und als Jochen die Meldung von dem Anschlag überbrachte, war des Direktors Erstaunen über seine Kündigung vergessen; der
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    Direktor hatte Jochens Meldung nicht mit Entsetzen, sondern mit Entzücken entgegengenommen, nicht traurig den Kopf geschüttelt - sich die Hände gerieben. »Ihr habt ja alle keine Ahnung. So ein Skandal kann ein Hotel mit einem Mal hochreißen. Da wird es Schlagzeilen nur so prasseln. Mord ist nicht Selbstmord, Jochen - und politischer Mord nicht irgendeiner. Wenn er nicht tot ist, werden wir so tun, als ob er sterben müßte. Ihr habt keine Ahnung, da muß mindestens die Zeile rein: ›Schwebt in Lebensgefahr; alle Telefongespräche sofort hier auf meine Leitung, daß mir ja kein Unsinn passiert.
    Mein Gott, macht doch nicht alle so belämmerte Gesichter. Kühl bleiben, zartes Bedauern ins Gesicht, wie jemand, der zwar einen Todesfall zu beklagen hat, aber durch die zu erwartende Erbschaft getröstet wird. Los, Kinder, an die Arbeit. Es wird telegrafische Zimmerbestellungen regnen. Ausgerechnet M. Ihr habt ja keine Ahnung, was das bedeutet. Wenn uns jetzt nur kein Selbstmord dazwischen kommt. Ruf sofort den Herrn auf Zimmer elf an; soll er meinetwegen wütend werden und abreisen - verflucht, das Feuerwerk hätte ihn doch wecken müssen. Los, Kinder, an die Gewehre.«
    ›Vater‹, dachte Hugo, ›du mußt mich hier abholen, sie lassen mich nicht auf Zimmer 211‹; Blitzlichter zuckten im grauen Schatten des Treppenhauses, das Lichtviereck des Aufzugs erschien, brachte die Gäste für die Zimmer 213-226, die der Absperrung wegen bis zum dritten Stock hinauffahren und über die Bediententreppe hinuntersteigen mußten; heftiges Gemurmel brach aus der Aufzugstür; dunkle Anzüge, helle Kleider, verstörte Gesichter, Lippen, die sich zu ›Zumutung‹ und
    ›skandalös‹ verzogen; zu spät zog Hugo seine Tür zu: sie hatte ihn entdeckt, kam schon über den Flur auf sein Zimmer zugelaufen; er hatte gerade den Schlüssel von innen umgedreht, da zuckte die Klinke schon heftig.
    »Mach auf, Hugo, mach doch auf«, sagte sie.
    »Nein.«
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    »Ich befehle es dir.«
    »Ich bin seit einer Viertelstunde nicht mehr im Dienst des Hotels, gnädige Frau.«
    »Du gehst weg?«
    »Ja.«
    »Wohin?«
    »Ich gehe zu meinem Vater.«
    »Mach auf, Hugo, mach auf, ich werde dir nicht weh tun und dich nicht mehr erschrecken; du kannst nicht weggehen; ich weiß, daß du keinen Vater hast, ich weiß es genau; ich brauche dich, Hugo - du bist es, auf den sie warten, Hugo, und du weißt es; du wirst die ganze Welt sehen, und sie werden dir in den schönsten Hotels zu Füßen liegen; du brauchst nichts zu sagen, nur dazusein; dein Gesicht, Hugo - komm, mach auf, du kannst nicht weggehen.«
    Das Zucken der Klinke unterbrach ihre Worte, zeichnete Kommata in den flehenden Fluß ihrer Stimme.
    »... es ist wirklich nicht meinetwegen, Hugo, vergiß, was ich gesagt und getan habe; es war Verzweiflung - komm jetzt, ihretwegen - sie warten auf dich, du bist unser Lamm...«
    Einmal noch zuckte die Klinke.
    »Was suchen Sie hier?« fragte sie.
    »Ich suche meinen Sohn.«
    »Hugo ist Ihr Sohn?«
    »Ja; mach auf, Hugo.«
    ›Zum ersten Mal kein ,Bitte'‹, dachte Hugo; er drehte den Schlüssel um und öffnete.
    »Komm, Junge, wir gehen.«
    »Ja, Vater, ich komme.«
    »Mehr Gepäck hast du nicht?«
    »Nein.«
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    »Komm.«
    Hugo nahm seinen Koffer auf und war froh, daß der Rücken seines Vaters ihr Gesicht verdeckte. Er hörte ihr Weinen noch, als er die Personaltreppe hinunterstieg.
    »Weint doch nicht, Kinder«, sagte der Alte; »sie wird ja wiederkommen und bei uns bleiben; sie wäre sehr traurig, wenn sie erfahren müßte, daß wir den Wein sauer werden lassen; er ist ja lebensgefährlich verletzt worden, und ich hoffe, das große Staunen wird nicht wieder von seinem Gesicht verschwinden; die halten sich alle für unsterblich - so ein sprödes kleines Geräusch kann Wunder wirken. Bitte, ihr Mädchen, kümmert euch um die Geschenke und die Blumen; Leonore übernimmt die Blumen, Ruth die Glückwunschkarten, Marianne die Geschenke. Ordnung ist das halbe Leben - woraus mag die andere Hälfte bestehen? Ich kann mir nicht helfen, Kinder, ich kann nicht traurig sein. Der Tag ist groß, er hat mir meine Frau wiedergegeben und einen Sohn geschenkt - darf ich Sie so nennen, Schrella?
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