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B00B5B7E02 EBOK

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Titel: B00B5B7E02 EBOK
Autoren: Susan Cain
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aber die Anstrengung kostet sie Energie, Authentizität und oft sogar die Gesundheit. Andere scheinen unnahbar oder selbstbeherrscht, aber ihr Inneres steckt voller Reichtum und Drama. Wenn Sie das nächste Mal eine Person mit einem beherrschten Gesicht und einer sanften Stimme sehen, denken Sie daran, dass sie insgeheim vielleicht eine Gleichung löst, ein Sonett schreibt oder einen Hut entwirft. Das heißt, sie entfaltet womöglich die Kraft der Stille.
    Aus Mythen und Märchen wissen wir, dass es viele verschiedene Arten von Macht auf dieser Welt gibt. Das eine Kind bekommt ein Lichtschwert in die Wiege gelegt, ein anderes die Erziehung eines Zauberers. Die Kunst dabei ist, nicht all die verschiedenen Arten von Macht, die im Angebot sind, anzuhäufen, sondern die, die Ihnen gegeben ist, gut zu nutzen. Introvertierte bekommen einen Schlüssel zu einem privaten Garten voller Reichtümer gewährt. Einen solchen Schlüssel zu besitzen bedeutet, wie Alice im Wunderland ein Kaninchenloch hinunterzupurzeln. Es war nicht ihre Wahl, ins Wunderland zu gehen – aber sie machte daraus ein Abenteuer, das frisch, fantastisch und ganz ihr eigenes war.
    Auch Lewis Carroll, ohne den es keine Alice im Wunderland gegeben hätte, war übrigens ein Introvertierter. Und nach allem, was wir gehört haben, sollte uns das nicht mehr überraschen.

ANHANG

Zur Widmung
    Mein Großvater war ein leiser, vornehm gekleideter Mann mit wehendem Silberhaar, einem stacheligen Bart und großen mitfühlenden blauen Augen. Er hatte eine feine Art, an Menschen das hervorzuheben, was hervorzuheben war, besonders an Kindern. In seinem Viertel in Brooklyn, wo er Rabbi war, begegnete man auf den Bürgersteigen Männern in schwarzen Hüten, Frauen mit knielangen Röcken und ungeheuer gut erzogenen Kindern. Auf dem Weg zur Synagoge grüßte er die Passanten freundlich, staunte über die Intelligenz des einen Kindes, die Körpergröße des nächsten und die Welterfahrenheit eines dritten. Die Kinder liebten ihn, Geschäftsleute respektierten ihn, verlorene Seelen klammerten sich an ihn.
    Er war auch ein Gelehrter. In seiner kleinen Wohnung, die er jahrzehntelang als Witwer allein bewohnte, hatten sämtliche Möbel ihre ursprüngliche Funktion verloren und dienten stattdessen als Ablage für Stapel von Büchern: hebräische Texte mit Goldschnitt neben Margaret Atwood und Milan Kundera. Mein Großvater saß an seinem winzigen Küchentisch im Lichtkegel einer Neonlampe, mit einem aufgeschlagenen Buch auf der weißen Baumwolltischdecke, schlürfte Lipton-Tee und naschte Marmorkuchen. In seinen Predigten, in denen er altes und humanistisches Gedankengut miteinander verwob, teilte er mit seiner Gemeinde die Früchte seiner Studien in der betreffenden Woche. Oft waren in der Synagoge nur noch Stehplätze frei.
    Meine übrige Familie nahm sich ihn zum Vorbild. Bei uns zu Hause war Lesen die hauptsächliche Gemeinschaftsaktivität. Samstagnachmittags machten wir es uns mit einem Buch in der Stube bequem. Es war das Beste aus beiden Welten: Man genoss die animalische Wärme der Familie, die direkt neben einem saß, und konnte gleichzeitig in der Abenteuerwelt der eigenen Gedanken umherstreifen.
    Doch noch vor meinem zehnten Geburtstag fing ich an mich zu fragen, ob mich dieses ständige Lesen nicht »ins Abseits« brachte, ein Verdacht, der sich zu erhärten schien, als ich mit zehn ins Sommercamp fuhr und beobachtete, wie ein Mädchen mit dicken Brillengläsern, einer hohen Stirn und renitentem Verhalten sich am ersten Tag des Zeltlagers, der ganz besonders wichtig war, weigerte, ihr Buch wegzulegen, und damit sofort zur Ausgestoßenen wurde. Ich hätte auch sehr gern gelesen, ließ aber meine eigenen Bücher unberührt im Koffer liegen (obwohl ich mich deswegen schuldig fühlte, als würden die Bücher mich brauchen und ich hätte sie verraten). Ich beobachtete, wie dieses Mädchen, das einfach weiterlas, von anderen gemieden wurde, weil es ein Bücherwurm und reserviert war – was ich ebenfalls war und, wie mir dort klar wurde, so gut es ging verstecken musste.
    Nicht allzu lange nach diesem Sommer war ich eines Abends mit einigen Freundinnen unterwegs. Wir fingen ein Gespräch mit einem gut aussehenden Teenager an, der, wie sich herausstellte, aus dem Viertel in Brooklyn kam, wo mein Großvater wohnte. Aufgeregt stieß ich den Namen meines Großvaters hervor und hoffte, mich im Glorienschein der Tatsache sonnen zu können, dass ich mit einem solchen Menschen
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