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Aus reiner Notwehr

Aus reiner Notwehr

Titel: Aus reiner Notwehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Young
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auf, den sie liebte, und alles, was er verkörperte, verlieh ihr Kraft und gab ihr neuen Mut.
    “Ich gehe jetzt zu ihr”, sagte sie. “Und ich werde bei ihr bleiben.”
    Sie öffnete sacht die Tür und trat ins Zimmer. Dass Leo an Victorias Seite saß und ihre Hand hielt, wunderte sie nicht. Noch an sein fahrbares Tropfgestell angeschlossen, hatte er einen Stuhl in eine Lücke gezwängt zwischen ihrem Bett und dem Apparat, der mit leisen, beruhigend gleichmäßigen Pieptönen die lebenswichtigen Funktionen anzeigte. Eigentlich wäre es Kates ärztliche Pflicht gewesen, ihn für sein eigenmächtiges Handeln zu tadeln, denn er hätte die Herzstation nicht einfach verlassen dürfen. Stattdessen legte sie ihm wortlos die Hand auf die Schulter, und Leo ergriff sie, bedeckte sie mit der seinen.
    “Kate. Vorhin hat sie nach dir gefragt.”
    “Ich hatte noch ein Gespräch mit Sam.” Beide beobachteten Victoria. “Schläft sie? Wie geht es ihr?”
    “Einigermaßen.” Er beugte sich vor und tätschelte Victorias Wange. “Vicky, schau mal, wer hier ist!”
    In Victorias Gesicht regte sich etwas, und sie öffnete zögernd die Augen. “Kate …”
    “Mama! Sind sie auch alle ganz lieb zu dir? Wenn nicht, dann muss ich denen hier aber mal Beine machen!”
    “Meine Kate, mein Mädchen! Eine Kämpferin!”
    “Wo ist Amber denn?”
    “Sie musste mal schnell hinaus.”
    Kate setzte sich und betrachtete ihre Mutter. Der Beruf einer Ärztin brachte die Begegnung mit dem Tod mit sich, unausweichlich, doch selbst einen Mediziner traf jene schwere Stunde des Abschieds von einem geliebten Menschen unvorbereitet. Die Bekenntnisse im Wintergarten bedeuteten die Antworten auf so manche Frage aus Kates Kindertagen und gleichzeitig ein ungewöhnliches Abschiedsgeschenk: die Erkenntnis, dass ihr Vater ein schlechter Mensch gewesen war. Aber dennoch war sie ihrer Mutter dankbar dafür, dass sie es stets vermieden hatte, ihre Erinnerung an ihn in irgendeiner Weise zu beeinflussen. Somit blieb er eine schemenhafte Gestalt, weder gut noch böse. Ihr wirklicher Vater, wenn auch nicht im biologischen Sinne, saß ihr gegenüber: Leo Castille. Sie sah ihn an, wie er sanft die Hand ihrer Mutter streichelte, und sie erkannte: Das Schicksal hatte es gnädig mit ihr gemeint.

36. KAPITEL
    “H i!”
    “Ach, Stephen, grüß dich!” Amber hatte kaum einen Schritt durch die Haustür getan, als er auch schon neben ihr auftauchte. Der Junge fiel ihr langsam auf die Nerven; sie seufzte innerlich und warf achtlos ihre Handtasche auf einen Stuhl neben dem Tischchen im Foyer.
    “Da bist du ja endlich”, sagte er erleichtert mit erwartungsvollem Gesicht.
    “Ich war im Krankenhaus. Opa Leo geht es gut, aber Victoria nicht so sehr.” Sie ging an ihm vorbei in den Wohnbereich und zog eine Flasche aus dem Einbau-Weinregal unter der Hausbar. “Könntest du die bitte mal für mich öffnen, Stephen?”
    “Klar!” Er holte den Korkenzieher aus der Schublade. “Kommst du geradewegs vom Krankenhaus?”
    “Was soll die Frage? Muss ich dir etwa jetzt auch schon über jede Kleinigkeit Rechenschaft ablegen? So wie deinem Vater?”
    “Du darfst nicht glauben, dass ich dich kontrolliere.” Er verzog gekränkt das Gesicht. “Das würde ich nie tun, das weißt du!”
    “Na, dann ist’s ja gut!” Sie suchte ein Weinglas aus, stellte es auf die Bartheke, zündete sich eine Zigarette an und tat einen tiefen, genussvollen Zug. “Ach, ich bin fix und fertig. Weiß auch nicht, was das soll, in einem Krankenzimmer herumzuhocken! Mein Gott, das geht einem so auf den Geist! Und nicht mal rauchen darf man! Sag mal, hat Nick angerufen? Nein? Bist du sicher?” Sie schritt hinüber zum Anrufbeantworter und hörte ihn ab. “Du hast doch nichts gelöscht, oder?”
    “Was soll das? Nein, ich habe nichts gelöscht, klar? Wieso ist dir dieser Santana eigentlich so wichtig? Du brauchst ihn doch überhaupt nicht! Weißt du nicht mehr, was wir vereinbart haben? Wie es werden könnte, wenn Deke uns nicht mehr im Wege steht? Jetzt ist er tatsächlich weg, und dieser Santana macht alles kaputt!”
    Ungehalten stieß sie den Zigarettenrauch aus. “Mein Gott, Stephen! Hast du das etwa ernst genommen? Das Ganze war doch … war doch nur so dahergeredet! Fantastereien! Hirngespinste! Und jetzt hat uns die Wirklichkeit wieder!”
    Den Tränen nahe, reichte er ihr die entkorkte Flasche. “Dummes Gewäsch, was? Für mich aber nicht! Mir war es ernst, jedes Wort! Ich möchte für

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