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Auf in den Urwald (German Edition)

Auf in den Urwald (German Edition)

Titel: Auf in den Urwald (German Edition)
Autoren: Christian Waluszek
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sein Gewicht in Gold wert. Seine Gabe könnte sich als wertvoller Gewinn erweisen. Es würde Jahre brauchen, den Jungen aufzubauen, doch der Gentleman verstand sich darauf, langfristig zu planen.
    Er kletterte aus dem Wagen. Der alte Kauz trat von einem Bein auf das andere und hatte die Arme verschränkt, um sich zu wärmen.
    »Ich möchte das Ausstellungsstück kaufen«, erklärte der Gentleman. »Das in dem Käfig.« Er sprach mit fester Stimme, um seine Erregung zu verbergen.
    » Non! Non!« Der Kutscher wedelte abwehrend mit den Händen. »Das ist nicht möglich.«
    Das alte Weib kam um den Wagen herumgehumpelt. »Es ist sehr wertvoll. Sehr wertvoll.«
    Der Herr zog einen Beutel mit Münzen hervor. »Dies wird Euch für den Verlust entschädigen.«
    Ein knochiger Arm schnellte unter dem Schultertuch der Alten hervor und griff nach dem Beutel. Sie öffnete ihn und lugte hinein. » Oui ... das ist ein redlicher Handel.«
    »Wo habt ihr ihn gefunden?«
    »Er kommt von sehr weit her«, sagte der alte Mann. »Aus den Steppen. Aus dem alten Fürstentum Moldau, dem Land der Dämonen und ...«
    »Die Wahrheit!«, unterbrach ihn der Herr mit drohender Stimme. »Ich verlange, die Wahrheit zu hören.«
    Das alte Weib trat näher an ihn heran. »Er wurde in der Nähe von Notre Dame ausgesetzt. Wir haben ihn einem Waisenhaus abgekauft.«
    Der Gentleman nickte. Dann pfiff er und seine Kutsche, gezogen von vier stattlichen Pferden, preschte aus dem Nebel hervor. Drei Männer von tadelloser Erscheinung in dunklen Paletots sprangen herab. Sie marschierten auf den Wagen der Zigeuner zu, hievten auf Anweisung des Gentleman den Käfig mit der Missgeburt heraus und verluden ihn in die andere Kutsche.
    »Lebt wohl«, sagte der Herr, während er auf das Trittbrett der Kutsche stieg. Im Hintergrund war das Kind zu hören, das jammerte und gegen die Käfigstäbe stieß. Sobald der Herr im Inneren der Kutsche verschwunden war, ertönte ein Peitschenknall und das elegante Gefährt verschwand im Nebel.
     

2
     
    Das Spiegelbild
     
    D er Junge saß an einem kleinen Holztisch. Er trug eine schwarze, knielange Hose, ein weißes Leinenhemd und eine sorgfältig gebundene schwarze Halsbinde – vom Scheitel bis zur Sohle ein junger Gentleman. Er starrte einen Augenblick lang auf das leere Pergament, setzte dann den verchromten Bleistift aus Zedernholz an und schrieb mit der linken Hand in großen, sorgfältigen Buchstaben: M – o – d – o. Daneben vermerkte er das Datum: 12. Oktober 1864. Vor einem Jahr, im Alter von vier Jahren, hatte man ihm das Schreiben beigebracht.
    In seinem Zimmer sowie im gesamten übrigen Haus waren Spiegel und jegliche spiegelnde Oberflächen untersagt worden. Die Fenster waren mit Brettern zugenagelt oder mit Papier verklebt. Der dürftige Sonnenstrahl, der auf sein Pergament fiel, drang durch ein kuppelförmiges Oberlicht.
    Unter dem Namen begann er, nach seiner Vorstellung eine Zeichnung seines Gesichts anzufertigen. Ab und an hielt er den Bleistift hoch und betrachtete sein bruchstückhaftes Spiegelbild auf der glänzenden Chromschicht. Er konnte Augen und Lippen ausmachen, aber seine Züge waren alle verzerrt. Seine Nase konnte er nicht erkennen. Wenn er sich mit seinen knotigen Fingern das Gesicht rieb, konnte er nur einen krummen fleischigen Höcker ertasten. Er zeichnete weiter, fügte dem Gesicht eine gerade Nase und makellos geformte Ohren hinzu. Die Augen übernahm er von einem seiner Lieblingsbilder der Königsfamilie – die Augen eines Prinzen. Er hatte sich so viele Stiche aus Büchern eingeprägt, dass er nicht einmal mehr nachblättern musste, um eine Vorlage zu suchen. Schließlich rundete er das Porträt noch mit einem Zylinder ab. Ein Gentleman trug stets Zylinder.
    Durch eine Tür gelangte man in einen angrenzenden weitläufigen Raum. An einer Wand hingen indische Jonglierkeulen und Kurzhanteln, an der gegenüberliegenden Wand Reihen von Holzschwertern und Lanzen. Eine Übungspuppe, bestehend aus Säcken, die mit Stroh gefüllt waren, hing in der Mitte des Zimmers. Sie verursachte Modo regelmäßig Gänsehaut, weil sie ihn an eine Hinrichtung erinnerte, über die er in einem Buch gelesen hatte. Ein kleines Plumpsklo und ein metallenes Waschbecken waren im hintersten Winkel des hintersten Raums untergebracht.
    Er hatte die letzten vier Jahre in den Räumen von Ravenscroft verbracht. Mrs Finchley hatte ihm erzählt, dass das Anwesen seinen Namen den zahlreichen Raben verdankte, die
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