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Auf in den Urwald (German Edition)

Auf in den Urwald (German Edition)

Titel: Auf in den Urwald (German Edition)
Autoren: Christian Waluszek
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erinnern.
    Wilfried betrachtete gedankenverloren die Ameisen und Käfer. Dann erhellte sich sein Gesicht. Er hatte plötzlich keine Lust mehr, auf der anderen Seite des Hauses im Kreis auf dem Rasen zu laufen oder den Tischtennisball unter dem Tisch zu suchen oder seinen Zimmernachbarn zu beobachten, der immer nur den Kopf hin und her warf.
    »Wilfried geht jetzt wieder zurück in den Urwald«, sagte Wilfried. »Dort gibt es viele schöne Pflanzen mit schönen Namen. Und Onkel Ludwig wird sich freuen, wenn er zusammen mit Wilfried spielen oder auf Reisen gehen kann!«
    Wilfried stand entschlossen auf und säuberte sorgfältig seine Hose von den Laubresten. Er war ein ordnungsliebender Mensch. Und deshalb war es auch klar, dass er zunächst die Seifendose aus dem Keller holte, um sie in den Schrank neben die Shampoo-Flasche zu legen. Erst dann konnte er in den Urwald aufbrechen.
    Wenig später hatte Wilfried die Seifendose neben die Shampoo-Flasche gelegt und alle Vorbereitungen zum Marsch in den Urwald abgeschlossen. Zunächst hatte er das dicke, in silbernes Blech geschmiedete und mit einem silbernen Verschluss versehene Tagebuch – ein Geschenk von Onkel Ludwig – auf den Tisch gelegt und rasch die Notiz eingetragen: »Freitag. Offene Kellertür, Wilfrieds große Urwaldgier«. Wilfried schrieb möglichst kurz und nur in Reimen. Kurz, weil er kein Freund von vielen Worten war, und in Reimen, weil es besser klang. Außerdem schrieb er die erste Hälfte in normalen Buchstaben, die zweite dagegen in Spiegelschrift. Weil es so schöner aussah. Dann hatte er die Jacke angezogen – eine Spezialanfertigung mit zeltähnlichen Ausmaßen – und das Tagebuch wie immer griffbereit in die Brusttasche gesteckt. Schließlich hatte er außer dem Rasierapparat seinen Schal in eine Plastiktüte gepackt, denn im Urwald war es nachts oft kalt, dazu noch die Zahnbürste, nicht aber die Zahnpasta, deren Duft bekanntlich nur die roten Riesenameisen anlockte.
    Den einzigen Fünfzigeuroschein, den er besaß, steckte er einfach in die Hosentasche. Dafür konnte man natürlich nicht mit dem Flugzeug in den Urwald fliegen. Wilfried wusste das, denn er hatte es schon zweimal versucht. Beide Male hatte er Vanessa vom Flughafen angerufen und beide Male hatte sie ihn abholen lassen. Versprochen hatte sie ihm, dass er zu Onkel Ludwig fliegen darf, und niemals ihr Versprechen gehalten. Vanessa war eine Lügnerin und den Fehler durfte Wilfried nicht noch einmal machen. Er musste sich das Geld irgendwo anders besorgen. Vielleicht konnte er bei anderen Leuten die Gärten pflegen. Er hatte es schon einmal eine ganze Zeit lang getan, bevor sie ihn überredete, in eines dieser scheußlichen Häuser zu gehen.
    Ansonsten war Wilfried Geld ziemlich egal und er machte sich keine weiteren Gedanken darüber. Viel wichtiger war, dass ihm noch etwas anderes einfiel: das Foto von Onkel Ludwig. Man hatte es ihm sofort am ersten Tag weggenommen, unten, in dem Zimmer mit den vielen Ordnern und Hängemappen. Das Foto musste Wilfried unbedingt wiederhaben, damit er im Urwald besser nach Onkel Ludwig suchen konnte.
    Nun aber war es Zeit zu gehen.
    »Auf Wiedersehen!«, sagte Wilfried zu seinem Zimmernachbarn. Dieser schnaufte einmal durch die Nase, sagte aber wie üblich nichts und warf nur seinen Kopf hin und her.
    Wilfried verließ das Zimmer. Herr Polzig war immer noch nicht zurück und auf der Treppe begegnete er auch keiner Menschenseele. Als er im Erdgeschoss an die Tür klopfte, hinter der sich die vielen Aktenordner und Hängemappen befanden, antwortete ihm keiner. Wilfried drückte die Türklinke, aber die Tür war verschlossen. Herrn Polzig brauchte er erst gar nicht zu fragen, der würde ihm das Foto bestimmt nicht geben. Und die anderen, die im Haus aufpassten, auch nicht. Wilfried tat es nicht gerne, aber es ging nicht anders: Er bückte sich und stemmte seine breite Schulter gegen die Tür. Sie gab nach, als sei sie aus Pappe.
    Der Rest war eine Frage von wenigen Sekunden. Wilfried wusste auf Anhieb, wo sich die Mappe mit Onkel Ludwigs Foto befand. Solche Dinge merkte er sich für alle Ewigkeit und ohne dass er es wollte. Er holte sie aus dem Regal und verstaute sie mitsamt ihrem Inhalt in der Plastiktüte. Dann drückte er mit seinem riesenhaften Daumen das verbogene Schloss wieder zurecht – Wilfried mochte es ganz und gar nicht, wenn er etwas zerstörte – und zog die Tür hinter sich zu.
    Im Keller angekommen, stellte Wilfried zufrieden
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