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Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
Autoren: Leo Tolstoi
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Mittagessen wegen der leisen Benommenheit, die sie in seinem Kopfe hervorrief. Heute las er den Leitartikel, in dem auseinandergesetzt wurde, daß in unserer Zeit völlig ohne Grund ein Jammergeschrei erhoben werde, als drohe der Radikalismus alle konservativen Elemente zu verschlingen und als sei die Regierung verpflichtet, Maßregeln zur Überwältigung der revolutionären Hydra zu ergreifen. »Ganz im Gegenteil«, hieß es, »liegt unserer Ansicht nach die Gefahr nicht in der vermeintlichen revolutionären Hydra, sondern in der Starrköpfigkeit der Reaktionäre, die jeden Fortschritt hemmen.« Auch einen zweiten Artikel, finanziellen Inhalts, las er durch, in dem Bentham und Mill zitiert wurden und einige gegen das Ministerium gerichtete boshafte Sticheleien vorkamen. Mit der ihm eigenen Schnelligkeit der Auffassung verstand er die Bedeutung einer jeden dieser Sticheleien, von wem sie ausging und gegen wen sie gerichtet war und welcher Anlaß ihr zugrunde lag, und das machte ihm, wie immer, ein gewisses Vergnügen. Indes wurde heute dieses Vergnügen durch die Erinnerung an Matrona Filimonownas Ratschläge und an die unerfreulichen Umstände im Hause stark beeinträchtigt. Er las auch, daß Graf Beust, wie verlaute, nach Wiesbaden gereist sei, und eine Anzeige: »Keine grauen Haare mehr!«, und über den Verkauf einer leichten Equipage, und daß ein junges Mädchen eine Stellung suche; aber diese Nachrichten bereiteten ihm nicht das stille, ironische Vergnügen wie früher.
     
    Als er mit der Zeitung, einer zweiten Tasse Kaffee und einer Buttersemmel fertig war, stand er auf, klopfte sich die Semmelkrümel von der Weste, reckte seine breite Brust und lächelte dabei heiter, nicht als ob ihm gerade besonders froh zumute gewesen wäre, vielmehr wurde das heitere Lächeln durch die gute Verdauung hervorgerufen.
     
    Aber dieses heitere Lächeln brachte ihm auch sofort wieder die ganze Wirklichkeit zum Bewußtsein, und er wurde ernst und nachdenklich.
     
    Zwei Kinderstimmen (Stepan Arkadjewitsch erkannte die Stimmen seines jüngsten Sohnes Grigori und seines ältesten Töchterchens Tanja) wurden vom Nebenzimmer her durch die Tür vernehmbar. Die Kinder fuhren mit etwas umher, und es fiel etwas auf den Fußboden.
     
    »Ich habe es dir doch gesagt: auf das Dach darfst du keine Fahrgäste setzen!« rief das kleine Mädchen auf englisch. »Nun kannst du sie auch aufheben!«
     
    ›Alles ist aus der gewohnten Ordnung gekommen‹, dachte Stepan Arkadjewitsch. ›Da laufen nun die Kinder ganz allein im Hause umher.‹ Er ging zur Tür und rief sie zu sich. Sie ließen die Schachtel, die einen Eisenbahnzug darstellte, liegen und kamen zu ihrem Vater herein.
     
    Das Mädchen, des Vaters Liebling, lief dreist herein, umarmte ihn und hängte sich ihm lachend an den Hals; sie freute sich wie immer über den ihr wohlbekannten Duft des Parfüms, den sein Backenbart ausströmte. Nachdem sie endlich sein von der gebückten Haltung gerötetes und von Zärtlichkeit strahlendes Gesicht geküßt hatte, löste sie die Arme von seinem Halse und wollte wieder weglaufen; aber der Vater hielt sie zurück.
     
    »Was macht Mama?« fragte er und strich mit der Hand über das glatte, zarte Hälschen seiner Tochter. »Guten Morgen!« sagte er lächelnd zu dem Knaben, der ihn begrüßte.
     
    Er war sich dessen bewußt, daß er den Knaben weniger liebte, und gab sich stets Mühe, die Kinder gleichmäßig zu behandeln; aber der Knabe empfand das und erwiderte das kalte Lächeln des Vaters seinerseits nicht mit einem Lächeln.
     
    »Mama? Die ist schon aufgestanden.«
     
    Stepan Arkadjewitsch seufzte.
     
    ›Da hat sie also wieder die ganze Nacht nicht geschlafen‹, dachte er.
     
    »Nun, und ist sie vergnügt?«
     
    Das kleine Mädchen wußte, daß es zwischen Vater und Mutter einen Streit gegeben hatte, und daß die Mutter nicht vergnügt sein konnte, und daß der Vater das wissen mußte, und daß er sich verstellte, wenn er so leichthin danach fragte. Und sie errötete für ihren Vater. Er verstand das sofort und errötete nun gleichfalls.
     
    »Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Sie hat gesagt, wir sollten heute keinen Unterricht haben, sondern mit Miß Hull zu Großmama gehen«
     
    »Na, dann geh, meine liebe kleine Tanja! Ja so, warte noch mal«, sagte er, indem er sie doch noch zurückhielt und ihr zartes Händchen streichelte.
     
    Er nahm vom Kaminsims eine Schachtel Konfekt herab, die er gestern dahin gestellt hatte, und
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