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Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
Autoren: Leo Tolstoi
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nichts für ihn empfände. Ich habe nur gesagt, ich wäre enttäuscht.«
     
    »Was meinst du damit? Du bist von ihm enttäuscht gewesen?«
     
    »Ich bin nicht eigentlich von ihm enttäuscht gewesen, sondern von meinem Gefühle; von meinem Vatergefühle hatte ich mir eine größere Vorstellung gemacht. Ich hatte erwartet, es werde sich in ganz überraschender Weise in meinem Innern ein neues, wohltuendes Gefühl wie eine Blume erschließen. Und nun fühlte ich statt dessen nur Mitleid und eine Art von Widerwillen ...«
     
    Sie hörte ihm über das Kind hinweg aufmerksam zu und steckte dabei die Ringe, die sie abgelegt hatte, um Dmitri zu baden, wieder an die schlanken Finger.
     
    »Und die Hauptsache war«, fuhr Ljewin fort, »daß ich weit mehr Angst und Mitleid empfand als Vergnügen. Aber heute, nach dieser Angst bei dem Gewitter, da habe ich gemerkt, wie lieb ich ihn habe.«
     
    Über Kittys Gesicht breitete sich ein strahlendes Lächeln aus.
     
    »Bist du sehr erschrocken gewesen?« fragte sie. »Ich auch; aber jetzt, wo es vorbei ist, erscheint es mir noch furchtbarer. Ich will morgen hingehen und mir die Eiche ansehen. Und was für ein liebenswürdiger Mensch Katawasow ist! Und überhaupt hat der ganze Tag einen so angenehmen Verlauf gehabt. Und du verträgst dich so nett mit Sergei Iwanowitsch, wenn du nur willst ... Nun, dann geh nur wieder zu ihnen. Nach dem Baden ist es hier immer heiß und ein feuchter Dunst ...«
     

19
     
    S obald Ljewin das Kinderzimmer verlassen hatte und allein war, kam ihm sofort wieder jener Gedanke in den Sinn, der noch eine gewisse Unklarheit enthielt.
     
    Statt in das Wohnzimmer zu gehen, aus dem die Stimmen zu ihm herübertönten, blieb er auf der Terrasse stehen und betrachtete, auf das Geländer gestützt, den Himmel.
     
    Es war schon ganz dunkel geworden, und der Süden, wohin er blickte, war frei von Gewitterwolken; sie standen nur noch auf der entgegengesetzten Seite. Von dorther leuchteten Blitze auf und ertönte ferner Donner. Ljewin horchte auf die Tropfen, die gleichmäßig von den Linden im Garten herabfielen, und betrachtete das ihm wohlbekannte Sternendreieck und die mitten hindurch ziehende Milchstraße mit ihren Verzweigungen. Bei jedem Aufflammen eines Blitzes verschwanden nicht nur die Milchstraße, sondern auch die hellen Sterne; aber sobald der Blitz erlosch, leuchteten sie wieder, wie von einer treffsicheren Hand dorthin geworfen, an denselben Stellen auf.
     
    ›Was macht mir denn noch Schwierigkeit?‹ fragte sich Ljewin und fühlte im voraus, daß die Lösung seiner Zweifel, obgleich sie ihm noch nicht bekannt war, doch schon in seiner Seele bereitlag.
     
    ›Ja, das einzige, wodurch die Gottheit in deutlicher, zweifelsfreier Form in Erscheinung getreten ist, das sind die Gesetze des Guten, die der Welt durch Offenbarung kundgegeben sind und die ich in mir fühle und durch deren Anerkennung ich, auch wenn ich diese Vereinigung nicht ausdrücklich selbst vollziehe, doch, ob ich will oder nicht, mit anderen Menschen zu einer Gemeinschaft von Gläubigen vereinigt bin, die man Kirche nennt. Nun, und die Juden, die Mohammedaner, die Anhänger des Konfutse, die Buddhisten, was sind denn die?‹ fragte er sich; das war jene Frage, die ihm so gefährlich erschienen war. ›Bleiben diese Hunderte von Millionen Menschen wirklich jenes höchsten Gutes unteilhaftig, ohne das das Leben keinen Wert hat?‹ Er wurde nachdenklich, wies sich aber alsbald zurecht. ›Aber wonach frage ich da?‹ sagte er zu sich selbst. ›Ich frage, in welcher Beziehung alle die verschiedenartigen Religionen der Menschheit zur Gottheit stehen. Ich frage danach, was die gemeinsame Form sei, in der Gott für die ganze Welt samt allen diesen Nebelflecken in Erscheinung tritt. Was tue ich denn? Mir persönlich, meiner Seele ist in unzweifelhafter Weise eine Kenntnis offenbart worden, die durch den Verstand nicht erreichbar ist, und da will ich hartnäckig diese Kenntnis durch den Verstand und durch Worte ausdrücken!‹
     
    ›Ich weiß ja, daß die Sterne nicht einherwandeln‹, sagte er zu sich selbst und blickte zu einem hellen Stern hinauf, der bereits seine Stellung bei dem höchsten kleinen Zweige einer Birke verändert hatte. ›Und doch kann ich, wenn ich die Bewegung der Sterne betrachte, mir nicht vorstellen, daß es die Erde ist, die sich dreht, und ich habe recht, wenn ich sage, daß die Sterne einherwandeln.
     
    Und hätten etwa die Astronomen irgend etwas verstehen
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