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Angstspiel

Titel: Angstspiel
Autoren: C. Bertelsmann
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gehen.
    Ines - wie ich sie nennen soll - und ich haben einen tollen Abend.
    Wir essen, während wir eine DVD gucken. Ines bricht dazu einfach Baguettestücke ab, kümmert sich einen Scheiß um die tausend Krümel, schneidet großzügig Käsescheiben, fischt mit einem Pikser Oliven aus dem Glas, viertelt Tomaten und serviert dazu eiskalten Kirsch-Bananen-Saft. Dabei läuft der Mitschnitt eines Konzerts. Ich kenne die Band nicht. Die Musik gefällt mir noch nicht mal und es geht mir trotzdem supergut. Ines fragt keine doofen Fragen, und ich lasse mich in das fette Gefühl reinfallen.
     
    Das hält leider keine zwölf Stunden. Überdauert gerade noch das Frühstück. An Ines’ tollem Kaffeeautomaten habe ich mir einen Milchkaffee gemacht, dazu gab es einen Obsalat-Müsli-Mix, den Ines mir extra in den Kühlschrank gestellt hatte. Sie ist schon seit Stunden weg, obwohl heute Feiertag ist, hatte mir aber alles Wichtige auf einen
Zettel geschrieben. Wie die Kaffeemaschine funktioniert, wo mein Frühstück steht, wo der Wohnungsschlüssel liegt und dass es bei ihr spät wird. Ich hatte gestern mitgekriegt, wie sie mit meiner Mutter über ihr aktuelles Projekt gesprochen hat. Sie will offenbar ein Haus für wohnungslose Frauen bauen - also nicht wirklich bauen, aber eröffnen. Sie hat auch eine alte Villa gefunden, die verkommt, aber nicht abgerissen werden darf wegen Denkmalschutz. Jetzt plant sie gerade einen Infostand, um über die Problematik obdachloser Frauen zu informieren. Eigentlich witzig, dass ich ausgerechnet zu Tante Ines geflüchtet bin. Irgendwie bin ich ja auch so was wie obdachlos. Zumindest heimatlos.
     
    Nach dem Frühstück falle ich. Direkt in ein Loch. Was tue ich hier? Was soll ich hier tun? Ich habe keine Lust, jetzt alleine in die Stadt zu fahren. Heute hat ja ohnehin alles zu. Ich lege mich auf mein Bett. Nach fünf Minuten stehe ich auf, mache den Fernseher an. Die Stille nagt zu sehr an mir. Ich sehe mir beim Fernsehgucken zu. Wundere mich über mich selber. Ich versuche es mit einem Buch. Tante Ines hat viele Bücher. Nachdem ich das dritte angefangen und wieder ins Regal gestellt habe, schnappe ich mir eine Zeitschrift. Wäre Luise jetzt hier, wüssten wir nicht, was wir als Erstes machen sollten. In die Stadt? Oder an diesen Baggersee, von dem Tante Ines erzählt hat? Wir könnten uns auch Tarotkarten legen. Die Packung samt Anleitung steht im Regal. Oder den Keller plündern mit den Überbleibseln aus der Zirkuszeit. Jonglierbälle, ein Clownskostüm, Riesenstelzen. Das haben wir bei unserem letzten Besuch hier gemacht. Da konnte ich Luise nur mit Mühe davon abhalten, das Öl für Feuerschlucker auszuprobieren.
    Der Gedanke kommt aus dem Nichts.

    Wenn Luise nicht meine Schwester gewesen wäre, wäre sie meine Freundin geworden?
    Hätte sie mich als Freundin ausgesucht? Sie - die Starke, Lebenslustige, Beliebte? Mich - die Stille, Ängstliche, Verhuschte? Der Star das Mauerblümchen?
    Verstehen wir uns vielleicht nur gut, weil wir uns gut verstehen mussten?
    Es ist erst Viertel vor elf und ich fühle mich, als wäre ich seit Wochen in Isolationshaft.
    Hätte Luise mich nicht gestern noch mal bitten können zu bleiben? Hat sie nicht etwas zu schnell akzeptiert, dass ich mich vom Acker mache? Jetzt hat sie ihren Vater und ihre Stiefmutter für sich allein.
    Sie darf trauern um ihre richtige Mutter, die sie nie kennengelernt hat. Wieso darfich eigentlich nicht trauern um meinen richtigen Vater? Darum, dass ich ihn nie kennenlernen werde. Obwohl ich ja eigentlich die Möglichkeit gehabt hätte, wäre meine Mutter damals nicht so hart gewesen. Irgendwo lebt er, hat keine Ahnung von mir. Oder hat er die doch und stellt mir nach? Nein, eigentlich glaube ich nicht mehr, dass er derjenige ist. Das macht keinen Sinn. Das kann ich mir nicht vorstellen, ist außer Reichweite meiner krudesten Gedanken.
    Ich muss was tun. Irgendwas.
    Im Schuhschrank finde ich Sportschuhe, die mir nur geringfügig zu klein sind. Ich leihe mir dazu eine Jogginghose von Ines und sprinte direkt vor der Haustür los. Die Straße runter, an der nächsten Kreuzung rechts, wieder rechts und rechts. Nach zehn Minuten stehe ich wieder vor der Haustür. Ich mache fünf der Runden, im Wohnzimmer noch Sit-ups und Liegestütze und um halb drei wache ich in stinkenden Klamotten auf dem Bett auf. Ich wollte mich nur ganz kurz ausruhen. Ich gehe duschen, sitze um halb vier mit nassen Haaren am Küchentisch.

    Und jetzt? Ich schlendere
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