Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Amerika

Amerika

Titel: Amerika
Autoren: Franz Kafka
Vom Netzwerk:
darauf hin, daß man die Ovation bemerkte oder wenigstens bemerken wolle. Der Führer lehnte in der Ecke wie früher, und der andere Herr stand neben ihm, die Hand am Kinn. Ein wenig enttäuscht setzte man sich wieder, hie und da drehte sich noch einer nach der
    Schiedsrichtertribüne um, aber bald beschäftigte man sich nur mit dem reichlichen Essen; großes Geflügel, wie es Karl noch nie gesehen hatte, mit vielen Gabeln in dem knusprig gebratenen Fleisch, wurde herumgetragen, Wein wurde immer wieder von den Dienern eingeschenkt – man merkte es kaum, man war über seinen Teller gebückt, und in den Becher fiel der Strahl des roten Weines –, und wer sich an der allgemeinen Unterhaltung nicht beteiligen wollte, konnte Bilder von Ansichten des Theaters von Oklahoma besichtigen, die an einem Ende der Tafel aufgestapelt waren und von Hand zu Hand gehen sollten. Doch kümmerte
    man sich nicht viel um die Bilder, und so geschah es, daß bei Karl, der der letzte war, nur ein Bild ankam. Nach diesem Bild zu schließen, mußten aber alle sehr sehenswert sein. Dieses Bild stellte die Loge des Präsidenten der Vereinigten Staaten dar.
    Beim ersten Anblick konnte man denken, es sei nicht eine Loge, sondern die Bühne, so weit geschwungen ragte die Brüstung in den freien Raum. Diese Brüstung war ganz aus Gold in allen ihren Teilen. Zwischen den wie mit der feinsten Schere
    ausgeschnittenen Säulchen waren nebeneinander Medaillons
    früherer Präsidenten angebracht, einer hatte eine auffallend gerade Nase, aufgeworfene Lippen und unter gewölbten Lidern starrgesenkte Augen. Rings um die Loge, von den Seiten und von der Höhe, kamen Strahlen von Licht; weißes und doch
    mildes Licht enthüllte förmlich den Vordergrund der Loge, während ihre Tiefe hinter rotem, unter vielen Tönungen sich faltendem Samt, der an der ganzen Umrandung niederfiel und durch Schnüre gelenkt wurde, als eine dunkle, rötlich
    schimmernde Leere erschien. Man konnte sich in dieser Loge kaum Menschen vorstellen, so selbstherrlich sah alles aus. Karl vergaß das Essen nicht, sah aber doch oft die Abbildung an, die er neben seinen Teller gelegt hatte.
    Schließlich hätte er doch noch sehr gerne wenigstens eines der übrigen Bilder angesehen, selbst holen wollte er es sich aber nicht, denn ein Diener hatte die Hand auf den Bildern liegen und die Reihenfolge mußte wohl gewahrt werden; er suchte also nur die Tafel zu überblicken und festzustellen, ob sich nicht doch noch ein Bild nähere. Da bemerkte er staunend – zuerst glaubte er es gar nicht – unter den am tiefsten zum Essen gebeugten Gesichtern ein gut bekanntes: Giacomo. Gleich lief er zu ihm hin.
    »Giacomo!« rief er.
    Dieser, schüchtern wie immer, wenn er überrascht wurde,
    erhob sich vom Essen, drehte sich in dem schmalen Raum
    zwischen den Bänken, wischte mit der Hand den Mund, war
    dann aber sehr froh, Karl zu sehen, bat ihn, sich neben ihn zu setzen, oder bot sich an, zu Karls Platz hinüberzukommen; sie wollten einander alles erzählen und immer beisammen bleiben.
    Karl wollte die anderen nicht stören, jeder sollte deshalb vorläufig seinen Platz behalten, das Essen werde bald zu Ende sein, und dann wollten sie natürlich immer zueinander halten.
    Aber Karl blieb doch noch bei Giacomo, nur um ihn anzusehen.
    Was für Erinnerungen an vergangene Zeiten! Wo war die
    Oberköchin? Was machte Therese, Giacomo selbst hatte sich in seinem Äußeren fast gar nicht verändert, die Voraussage der Oberköchin, daß er in einem halben Jahr ein knochiger
    Amerikaner werden müsse, war nicht eingetroffen, er war zart wie früher, die Wangen eingefallen wie früher, augenblicklich allerdings waren sie gerundet, denn er hatte im Mund einen übergroßen Bissen Fleisch, aus dem er die überflüssigen
    Knochen langsam herauszog, um sie dann auf den Teller zu
    werfen. Wie Karl an seiner Armbinde ablesen konnte, war auch Giacomo nicht als Schauspieler, sondern als Liftjunge
    aufgenommen, das Theater von Oklahoma schien wirklich jeden brauchen zu können! In den Anblick Giacomos verloren, blieb aber Karl allzulange von seinem Platze fort. Eben wollte er zurückkehren, da kam der Personalchef, stellte sich auf eine der höher gelegenen Bänke, klatschte in die Hände und hielt eine kleine Ansprache, während die meisten aufstanden, und die Sitzengebliebenen, die sich nicht vom Essen trennen konnten, durch Stöße der anderen schließlich auch zum Aufstehen
    gezwungen wurden.
    »Ich will hoffen«, sagte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher