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Altern verboten

Altern verboten

Titel: Altern verboten
Autoren: Jo Zybell
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würden wir uns anders verhalten in seiner Situation?«
     
    *
     
    »Noch eine Stunde und fünfzehn Minuten«, säuselte die emotionslose Stimme aus Plutejos selbstgebautem Empfänger. Aus dem Audiomodul des alten Monitors hörten sie Arbeitsgeräusche und menschliche Stimmen. Die Bildübertragung funktionierte nicht. Schade. Was sie jedoch hören konnten, verriet ihnen genug: Die Verladung der Containerplomben war abgeschlossen, die Auslieferung der Tauschware hatte begonnen. Die Frachterkapitäne bezahlten mit Medikamenten, Konserven, Textilien und elektrischem Gerät und natürlich mit der Droge. Bis zur zehnten Stunde vor Sonnenuntergang hatte der Primkommunikator nur jede volle Stunde des Countdowns angesagt; seitdem tönte seine einschmeichelnde Stimme jede Viertelstunde aus dem Empfänger.
    Die meisten hockten in der Höhlenmitte unter dem Heizstrahler um den improvisierten Empfänger und den antiken Kugelmonitor herum: Uran, seine Frau, seine Söhne und Töchter, seine Brüder und Schwestern und deren Männer, Frauen, Söhne und Töchter. Einige lagen auch in der Schlafhöhle bei den Halbwüchsigen und Kleinen. Gedämpfte Stimmen erfüllten die Haupthöhle, manchmal schluchzte jemand, manchmal fluchte jemand, manchmal umarmte jemand seinen Nachbarn und hielt ihn fest. Der Empfänger rauschte meistens, der Monitor blieb leider weiterhin dunkel.
    Venus hatte sich in ihre Höhlennische zurückgezogen. Dort lag sie in Decken gewickelt auf weichem Verpackungs- und Isoliermaterial. Als Kopfkissen benutzte sie ihren prallvollen Rucksack. Alle hatten sie schon das Nötigste zusammengepackt; alle, die den Ausbruch wagen wollten.
    In Gedanken fuhr die junge Frau zum hundertstenmal mit dem Schachtlift zur Eisoberfläche hinauf. Zum hundertstenmal stürmte sie über das Eis bis zum Frachter, schwebte den Teleskoplift hinauf, drang ins Innere des Schiffes ein und lief vom Hauptinnenschott hinauf zur fünften Ebene und von dort bis zu Ebene I der Kommandozentrale.
    Niemals hatte sie einen Omegaraumer betreten, dennoch sah ihr inneres Auge vertraute Formen und Farben, vertraute Gänge und Abzweigungen, vertraute Luken und Sensorenschlösser. Und als sie in Gedanken im Pilotensessel saß, in Gedanken die Steuerungskonsole betrachtete und in Gedanken die ISK-Kappe überstreifte, konnte sie jeden einzelnen Schalter, jeden Monitor, jede Kontrolleuchte benennen und einer Funktion zuordnen.
    Von Kindesbeinen an hatte ihr Vater sie und ihre Geschwister in seinen Geschichten durch sein ehemaliges Flaggschiff geführt, tausendmal und öfter Luken geöffnet, Controgravlifte betreten, auf dem Kommandantensessel Platz genommen und den Start eingeleitet. Ob Frachter, Aufklärer oder schwerer Kreuzer – die Omegaraumer der Republik waren alle nach dem gleichen Muster konstruiert. Trotzdem fürchtete Venus sich manchmal vor dem Augenblick, wenn die Bilder in ihrem Kopf mit der Wirklichkeit draußen oberhalb des Eises zusammenstießen.
    Über solchen Gedanken und Ängsten schlief sie von Zeit zu Zeit ein. In wilden Träumen hetzte sie durch Schneeverwehungen, über Kunststoffböden und an Kunststoffwänden entlang. In farbenprächtigen, euphorischen Träumen stand sie an Stränden, schwamm in warmem Wasser oder ließ ihren nackten Leib von warmem Sonnenlicht bescheinen.
    »Dreißig Minuten.« Die Stimme des Primkommunikators riß sie aus dem Schlaf. Sie blinzelte in das schroffe Gesteinsrelief der Höhlendecke über sich. Noch dreißig Minuten …! Sie fuhr hoch. Alle drängten sich um den alten Kugelmonitor. Der übertrug jetzt Bilder! Bilder von der Eisoberfläche!
    Venus legte sich eine Decke um die Schultern, packte ihren Rucksack und kroch in die Höhlenmitte zu den anderen. »Funktioniert er endlich?« Ihre Mutter nickte. Einige Kinder hatten sich inzwischen unter die Erwachsenen gemischt. Die feuchten Münder weit offen und mit glänzenden Augen starrten sie in das Geflimmer des Monitors. Säuglinge glucksten an Brüsten, Knaben nagten an ihren Unterlippen, Venus' Vater, seine Brüder und die Sippenältesten saßen stocksteif. Einige der Jüngeren, die den Ausbruch versuchen sollten, hatten ihre Bestecke ausgepackt – Halbwüchsige, junge Männer, junge Frauen. Auch Venus' Bruder. Plutejo band sich den Arm ab und setzte die Spritze an.
    Kurz schoß ihr die Frage durch den Kopf, wo er wohl den Stoff herbekommen würde, falls er überlebte. Sie verscheuchte den Gedanken. Später. Immer eines nach dem anderen. Jetzt konzentrierte
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