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Als der Meister starb

Als der Meister starb

Titel: Als der Meister starb
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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davongelaufen, und die acht Männer, die heute gestorben sind, sind meinetwegen gestorben. Es darf nicht noch mehr Tote geben. Du musst leben.«
    »Ich? Aber was habe ich …?«
    »Yog-Sothoth wird nicht wieder gehen«, unterbrach er mich. »Er wird weiterleben, nachdem er mich getötet hat. Und wenn das geschehen ist, ist er frei. Er und vielleicht andere, die mit ihm kamen. Jemand muss da sein, der den Kampf fortführt. Es gibt jemanden in London, der die Kraft und das Wissen hätte, den Kampf zu gewinnen, aber er braucht Hilfe. Deine Hilfe.«
    »Aber wieso ich?«, fragte ich hilflos. »Wieso ausgerechnet ich? Ich bin kein Hexer wie Sie. Ich verstehe nichts von Schwarzer Magie und Zauberei!«
    »Aber du bist ein Erbe der Macht, wie ich«, sagte Andara ernst. »Du weißt es noch nicht, aber die Begabung ist in dir. Ich habe es gespürt, als ich dich zum ersten Mal sah. Der Mann, zu dem ich dich schicken werde, wird dir helfen, deine Kräfte zu erforschen und zu lernen, sie richtig anzuwenden.«
    »Ich?«, keuchte ich. »Ich soll ein Hexer sein? Sie … Sie sind verrückt.«
    Und ich wusste im gleichen Moment, in dem ich die Worte aussprach, dass er recht hatte. Es war kein Zufall, dass er mich mit auf diese Reise genommen hatte. Er hatte mich gesucht, jemanden wie mich. Meine Fähigkeit, immer zu wissen, ob mich jemand belog oder nicht, die Gabe, immer im rechten Moment am richtigen Ort zu sein, mein Instinkt, immer genau das Richtige zu tun, um den mich meine Kameraden immer so bewundert hatten – es war nicht einfach nur Glück …
    Andara lächelte, hob die Hand und berührte die gezackte, wie ein erstarrter Blitz geformte Strähne weißen Haares, die dicht über seinem rechten Auge begann und sich bis an den Scheitel hinaufzog. »Du besitzt die gleichen Fähigkeiten wie ich, Robert, sagte er sanft. »Und bald wirst du das Stigma der Macht tragen.«
    Ich starrte ihn an, öffnete den Mund, brachte aber keinen Laut hervor.
    »Es tut mir leid«, flüsterte Andara. »Ich hätte es dir gerne auf andere Weise beigebracht. Ich weiß, was du jetzt fühlst.«
    Aber ich hörte seine letzten Worte kaum mehr. Mit einem krächzenden Schrei auf den Lippen fuhr ich herum und lief davon, so schnell ich konnte.
    Während der letzten halben Stunde war der graue Streifen vor dem Horizont erst zu einer Linie, schließlich zu einer zerschrundenen, zweihundert Fuß senkrecht in die Höhe strebenden Felswand geworden. Ihre Basis verschwand in einer Wolke weißer, wie fein zermahlener Staub schäumender Gischt, aber die Wellen brachen sich schon ein gutes Stück vor der Küste, bildeten verräterische Wirbel und Strudel, zwischen denen nur hier und da ein schwarzer, feuchtglitzernder Umriss hervorstach. Die LADY OF THE MIST raste auf die Küste zu, auf sie und die Barriere mörderischer Riffe, die dicht unter der Wasseroberfläche auf die Schiffe lauerte, die unvorsichtig genug waren, sich ihnen zu nähern. Die Küste tanzte dicht vor uns auf und ab; im gleichen Rhythmus, in dem sich der Bug des Schiffes in Wellentäler senkte oder auf ihre Rücken hob. Das Heulen, mit dem sich der Wind an den kantigen Graten der Wand brach, war selbst über die Entfernung von mehr als einer Meile deutlich zu hören, aber das Geräusch klang in meinen Ohren wie boshaftes Hohngelächter.
    »Wahnsinn«, murmelte Bannermann neben mir. Seine Stimme war fast unnatürlich gefasst, aber sein Gesicht hatte jede Farbe verloren. »Das ist Wahnsinn«, murmelte er erneut, als ich nicht reagierte. »Wenn mir vor zwei Stunden jemand erzählt hätte, dass ich mein Schiff freiwillig auf die Riffe steuern würde, hätte ich ihn für verrückt erklärt.« Er starrte mich an, und ich spürte, dass er auf eine Antwort wartete.
    Aber ich schwieg. Meine Gedanken weigerten sich noch immer, sich in geordneten Bahnen zu bewegen. Hinter meiner Stirn tobte ein Orkan einander widerstrebender Empfindungen und Gefühle. Ich wusste im Grunde genau, dass Andara recht hatte, mit jedem Wort. Jetzt, als ich die Wahrheit erfahren hatte, fielen mir all die tausend Kleinigkeiten ein, die ich erlebt hatte; Dinge, die jetzt, mit meinem neu erworbenen Wissen, ein völlig anderes Gewicht bekommen hatten. Ich hatte das Talent, von dem Andara gesprochen hatte. Und irgendwie – ohne mir selbst darüber im Klaren gewesen zu sein – hatte ich es die ganze Zeit über gewusst, schon lange, bevor ich Andara kennen gelernt hatte.
    Aber ich wollte es nicht wissen. Ich wollte nichts mit all diesen
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