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Alles hat seine Zeit

Titel: Alles hat seine Zeit
Autoren: Ennio Flaiano
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maßte ich mir an, wie alle Eroberer-Soldaten auf dieser Welt, die Psychologie der Eroberten zu kennen. Ich empfand mich als allzu verschieden von ihnen, um zuzugeben, dass sie noch andere Gedanken haben könnten außer j enen, die ihnen die elementarste Natur eingab. Vielleicht hielt ich diese Wesen für zu einfach. Doch ich musste darauf bestehen: Die Augen dieser Frau sahen mich an wie seit zweitausend Jahren, mit dem stummen Vorwurf, ein Erbe vernachlässigt zu haben. Und ich wurde gewahr, dass in ihrer trägen Verteidigung auch die Hoffnung zu unterliegen enthalten war.
    Warum verstand ich diese Leute nicht? Sie waren traurige Tiere, in einem Land ohne Ausweg gealtert, sie waren große Wanderer, große Kenner von Abkürzungen, vielleicht Weise, aber uralt und ungebildet. Keiner von ihnen hörte die Frühnachrichten beim Rasieren, und ihr Frühstück wurde nicht aufregender durch die vollgeschriebenen Bogen, auf denen die Druckerschwärze noch feucht war. Sie konnten leben
und nur hundert Worte kennen. Auf der einen Seite das Schöne und das Gute, auf der anderen das Hässliche und das Böse. Sie hatten von ihren glanzvollen Zeiten alles vergessen, und jetzt gab nur ein Aberglaube ihren elementaren Seelen die Kraft, in einer Welt voller Überraschungen durchzuhalten. In meinen Augen lagen zweitausend Jahre mehr, und sie spürte es.
    Vielleicht waren sie wie vorgeschichtliche Tiere, die zufällig in einen Panzerwagenpark geraten waren und merkten, dass sie ihre Zeit überlebt hatten, und darüber empfanden sie eine untröstliche Melancholie… Nein, zu einfach, ich würde es nie verstehen.
    Der Kampf dauerte an und hätte noch lange dauern können; denn auch ich dachte an anderes. Stattdessen aber endete er ebenso plötzlich, wie er begonnen hatte; doch sie vermied es, mich anzusehen.

4
    Irgendetwas war in mir entstanden, das nicht mehr vergehen würde. Als ich das Gehölz anschaute, sah ich es zittern, wie von einem harmlosen Erdbeben erschüttert. Die Raben hatten ihre wirren Flüge nicht unterbrochen und kamen der Reihe nach zu den nicht weit entfernten Tümpeln;
neugierig geworden durch unsere Reglosigkeit, ließ einer sich sogar zu uns herab und stand flügelschlagend einen Augenblick still in der Luft. Dann nahm er seinen plumpen Flug wieder auf.
    Ich dachte, dass irgendetwas in mir entstanden sei, das nicht mehr vergehen würde. War es die Berührung mit dieser dunklen Frau? Oder hatte ich etwas wiedergefunden? Ich fragte mich, warum sie dalag, ohne die Augen zu öffnen, und warum sie vermied, mich anzusehen, als sie sie öffnete; und unterdessen suchten ihre Hände, die kurz zuvor noch fremd gewesen waren, meine Haut und fassten mich fest, erschrocken darüber, dass ich hätte fortgehen, sie verlassen können, wie man es in solchen Fällen tut, nachdem man mit Verdruss seinen Fehler bedacht hat.
    Ich hörte in der Ferne das Geräusch eines Lastwagens, und da beschloss ich, sofort wegzugehen, aber ich konnte mich nicht bewegen; vielleicht war ich müde, und die Frau lag stumm und träge da. Als ich wusste, dass womöglich sie es war, die mich zurückhielt, befahl ich mir, mich davonzumachen, ehe es zu spät war, ehe ich mich in ihre Hütte führen ließ und dort die vier Tage meines Urlaubs und vielleicht auch noch länger verbrachte; ehe ich diese unabsehbare Niederlage hinnahm. Ich erhob mich, und sie sah mich durch die halbgeschlossenen Lider flüchtig an und legte
die Unterarme über ihr Gesicht. Einen Augenblick später (ich sagte mir, dass ich zu müde sei und mich ausruhen müsse) lag ich wieder neben ihr. Sie umfasste mich mit einer trägen Sanftheit. Es war heiß, und ich schlief ein.
    Ich schlief einen alten wirren Schlaf. Ich fürchtete mich davor, aber ich wollte ihn nicht aufgeben und hoffte, er würde andauern. Ich fand tiefe Ströme, Ufer, die ich niemals gesehen hatte und von denen es mir schwer werden würde, in die Wirklichkeit zurückzukehren. Gab es ein Hochland, einen Lastwagen, um dorthin zu gelangen? Gab es überhaupt etwas anderes? Ich stieg zum Ufer des Nebenflusses hinab, und das Krokodil sah aus, als hieße es mich willkommen, aber es verschwand wie ein Baumstamm und ließ mich glücklich zurück, da diese Begrüßung mich freisprach.
    Ich hatte nicht lange geschlafen, zwanzig Minuten vielleicht. Die Frau hatte sich unterdessen ihre Kleider angezogen und überwachte meinen Schlaf. Ich sah sie verdrießlich an, aber sie schien in ihre Gedanken versunken, die, wie schon zuvor, sich
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