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Aller Heiligen Fluch

Aller Heiligen Fluch

Titel: Aller Heiligen Fluch
Autoren: Elly Griffiths
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oder einfach nur neben ihr liegt und ihre Hand hält. Sobald Ruth versucht, sich aus dem Zimmer zu schleichen, fängt Kate an zu brüllen. Schreien lassen, sagen die Bücher, aber das hält Ruth nicht aus. Vielleicht wäre es ja anders, wenn noch ein zweiter Elternteil da wäre, jemand, der ihr ein Glas Wein einschenkt und sie ermahnt, stark zu bleiben; doch allein knickt Ruth immer wieder ein. Sie kommt bestenfalls bis zur Treppe, dann ist sie schon wieder im Einsatz mit Singen, Vorlesen und Händchenhalten. Meistens schläft sie dabei selber ein, auf dem Boden neben Kates Kinderbett, wo sie gegen Mitternacht mit steifen Gliedern und trockenem Mund wieder aufwacht. Wenn es dann schrecklich bald Morgen wird, ist eine von ihnen ausgeschlafen und tatendurstig, und das ist nicht Ruth.
    «Mum», sagt Kate. «Mum Mum Mum Mum.»
    Das ist neu, und Ruth bekommt regelmäßig einen Kloß im Hals. Es gefällt ihr, dass Kate nicht «Mummy» zu ihr sagt, sondern «Mum», als wäre sie bereits ein kleiner Teenager. Ruth fühlt sich sehr viel wohler mit «Mum». «Mummy» klingt so affektiert, nach Landadel. Sie ist sich sicher, dass Shula und David aus der Radioserie
The Archers
«Mummy» zu ihrer Mutter sagen.
    Etwas verstörender ist es da schon, dass Kate neuerdings auch «Dada» sagt, die Kleinkind-Variante von «Daddy». Da es aktuell kein männliches Wesen gibt, das die Vaterposition für sie besetzen würde, verfolgt sie einen flächendeckenden Ansatz und hat bislang den Kater Flint, ihren Großvater, Cathbad sowie den Postboten mit dieser Anrede bedacht. Ruths Vater und Cathbad waren entzückt, Flint und der Postbote zeigten sich eher weniger begeistert.
    Auf der Fahrt durch die Straßen von King’s Lynn, vorbei am Kai, dem Zollhaus und dem Marktplatz, plappert Ruth ununterbrochen fröhlich drauflos, um ihre Tochter wach zu halten. «Schau mal, Kate, schau mal, der Hund! Hat der aber viele Tupfen! Fast wie bei den einhunderteins Dalmatinern. Das Buch liest Mum dir dann mal vor, wenn du größer bist. Es ist toll. Viel besser als der Film. Schau mal, die Kinder sind als Hexen verkleidet! Und da sind noch mehr! Und die da drüben haben sich als Massenmörder verkleidet. Wie niedlich!» Je weiter der Nachmittag in den Abend übergeht, desto mehr dieser Miniatur-Teufel bevölkern die Straßen. Wann ist die «Süßes oder Saures»-Sitte eigentlich so ausgeartet? Das wird sie Kate niemals erlauben. Aber da, wo sie wohnen, gibt es ja auch keine Nachbarn, nur das Meer und kilometerweit raschelndes Sumpfland. Vielleicht sollten sie doch umziehen. Ruth kurbelt das Fenster herunter, in der Hoffnung, dass die kühle Luft Kate am Einschlafen hindert. Sie nimmt die Bruce-Springsteen-Kassette aus der Anlage und legt stattdessen eine mit Kinderliedern ein.
«My bonnie is over the ocean, my bonnie is over the sea …»
Keine Chance. Kate sinkt der Kopf auf die Brust.
    Ruth findet sich rasch damit ab. Sie weiß zwar, dass sie es später büßen wird, doch im Moment kann sie etwas Ruhe gut brauchen. Vielleicht schläft Kate ja weiter, wenn sie zu Hause sind, und Ruth kann sie nach oben in ihr Bettchen tragen. Mum muss nachdenken, erklärt sie ihrer Tochter im Stillen. Sie ist ein bisschen durcheinander, weil sie heute deinen Dad getroffen hat. Dad. Zu Nelson hat Kate noch nie «Dada» gesagt, aber sie hat ihn auch seit einem halben Jahr nicht mehr zu Gesicht bekommen. In den ersten Monaten nach Kates Geburt kam Nelson häufig zu Besuch, zwar zerfressen von Schuldgefühlen Michelle gegenüber, aber doch auch bezaubert von dieser unvorhergesehenen neuen Tochter. Kate kam zur Welt, nachdem Ruth und Nelson eine einzige Nacht miteinander verbracht hatten, ein paar wenige Stunden, einer Reihe schrecklicher Ereignisse abgerungen, an deren Anfang der Mord an einem Kind stand. Ruth hat immer gewusst, dass Nelson seine Frau und seine anderen Töchter nicht verlassen wird, und sie ist stolz darauf, dass sie nichts von ihm verlangt. Doch Nelson konnte das nicht auf sich beruhen lassen, er wollte Ruth Geld geben, ein Teil von Kates Leben sein. Er hat sogar darauf beharrt, dass Ruth die Kleine taufen lässt und Michelle und er Taufpaten werden. Und bei der Taufe hat Michelle es gemerkt.
    Ruth weiß bis heute nicht, wie es dazu kommen konnte, doch zwei Tage nach der kurzen Zeremonie in einer katholischen Kirche stand Nelson bei ihr vor der Tür, so kreidebleich, dass sie ihn im ersten Moment gar nicht erkannt hat. Michelle wusste jetzt, dass er Kates
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