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Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)

Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)

Titel: Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)
Autoren: Jesper Juul
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Sichtweise auf Kinder und deren Führung durch Erwachsene. Weder Erzieher, Lehrer und Pädagogen noch Eltern haben jedoch jenes Ziel aufgegeben, das mit dem alten Erziehungsparadigma zusammenhängt: ausschließlich liebe, gut angepasste und folgsame Kinder zu haben. Sie wollen dieses Ziel in einer sanfteren Art erreichen. Nach vierzig Jahren können wir getrost die Schlussfolgerung ziehen, dass dieser sehr gutgemeinte Versuch wenig erfolgreich und überzeugend war, obwohl er verglichen mit den alten Gepflogenheiten eine deutliche Verbesserung darstellt.
    Die neuromantische Kultur hat es geschafft, Erwachsenen die Bürde aufzuerlegen, immer lieb, freundlich, verständnisvoll, sanft und zärtlich zu sein – eine menschenunmögliche Aufgabe. Dieses Phänomen wirft eine entscheidende Frage auf, die ich nirgends beantwortet finde – weder ergibt sich eine Antwort aus Gesprächen mit Betroffenen, noch kann ich sie in psychologischen oder soziologischen Studien finden. Die Frage lautet: Wenn wir annehmen, dass meine Generation die Ehrfurcht vor Autoritäten abschütteln konnte – sich endlich frei fühlte; frei von Autoritäten, die vorschrieben, was und wie man zu sein hat; frei, um das zu verwirklichen, was man wirklich ist; frei von falschen Rollenspielen und frei, die eigene Identität zu bestimmen und sich eigene Ziele zu setzen –, warum haben wir, und danach unsere Kinder, den Umweg über andere Arten von Rollenspielen und eine andere Art von Konformität gewählt?
    Eine Antwort auf die vielen Fragen, die daraus folgen, habe ich auch nicht, ich weiß nur, dass diese Tatsache unsere Entwicklung als menschliche Wesen noch mal erheblich verlangsamt hat. Sie hat unser psychisches und existentielles Erwachsenwerden behindert – es hätte uns vielleicht heute befähigen können, mit den Herausforderungen und Gefahren unserer sich stets verändernden Welt fertig zu werden. Eltern wie Pädagogen sind in ihren Rollen gefangen, so dass sie keine guten Vorbilder für ihre Kinder und Schüler abgeben können. Sie haben sich freiwillig beschnitten und verboten, ihre breite Skala an natürlichen und gesunden menschlichen Emotionen – einschließlich der Aggressivität – auszudrücken und auszuleben. So kommt es, dass sie ihren Kindern reale, menschliche Nähe und Wärme nicht geben können. In einigen Ländern, die wir zu dem »zivilisierten« Teil der Welt zählen, dürfen Lehrer ihre Schüler nicht länger als fünfzehn Sekunden körperlich berühren, und das auch nur an den Schultern – das gilt selbst für den Fall, dass sie hingefallen sind und sich verletzt haben.
    Warum ist das so? Weil Erwachsene Kinder vor Missbrauch und Verletzung ihrer persönlichen Integrität bewahren wollen? Ich bin mir sicher, dass dieses Anliegen gut gemeint ist, trotzdem ist es krank! Es ist lediglich ein Alibi, das die Unfähigkeit von Politikern und Bürokraten widerspiegelt, die sich nicht vorstellen können, was gut und gesund für Kinder und Jugendliche ist. Deshalb erlassen sie Gesetze, die sie vor Kritik bewahren. Was können Kinder von defensiven, anämischen Erwachsenen lernen? Empathie? Liebe? Leidenschaft? Mitgefühl?
    Ich habe neulich in einem Workshop eine Mutter von drei Kindern getroffen. In der Pause kam sie auf mich zu und meinte mit Tränen in den Augen, ob sie mir eine Frage stellen dürfe. Nachdem ich ihr mein Einverständnis gab, sagte sie: »Ich fühle mich so schlecht und schuldig; ich fürchte, ich habe meinen Kindern geschadet. In den vergangenen zwei Monaten habe ich sie dreimal angebrüllt. Tut mir leid, dass ich Sie in Ihrer Pause störe, aber ich kann diese Geschichte nicht offen vor der Gruppe erzählen.«
    Ich war gleichermaßen schockiert wie bewegt, so dass ich sie ganz herzlich umarmte (ich weiß, das ist unverzeihlich!), dann versicherte ich ihr, dass sie ihren Kindern weder einen Schaden zugefügt noch ihre Beziehung zu ihnen ruiniert hat. Sie hat sich wie ein normales menschliches Wesen verhalten, und genau das brauchen Kinder so oft wie möglich in ihrer Umgebung – vor allem, wenn sie sich die meiste Zeit in der Gesellschaft von Lehrern oder Pädagogen befinden, die nichts als Rollen spielen. Alles, was sie als Mutter tun muss, ist aufrichtig zu bleiben, die Verantwortung für ihr Verhalten zu übernehmen und nicht in alter Manier sich selbst reinzuwaschen, indem sie den Kindern die Schuld zuschreibt.
    Und nun folgt die nächste große Frage, die ich allerdings beantworten kann: Kann es sein, dass
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