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Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)

Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)

Titel: Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)
Autoren: Jesper Juul
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würden wir konstant die Handschrift eines Kindes kritisieren, während das Kind sich redlich bemüht, in seiner Muttersprache zu schreiben. Wir zielen auf formelle Aspekte ab und ignorieren dabei Substanz und Inhalt, so dass es nicht verwunderlich ist, wenn das Kind die Lust verliert, sich schriftlich auszudrücken und einen verständlichen Stil zu entwickeln. Und schon wieder ist es gelungen, einen Circulus vitiosus zu kreieren, aus dem keiner als Gewinner hervorgehen kann.
    Während es aufwächst, geht ein Kind durch Myriaden von Lernprozessen hindurch. In den ersten Jahren führen diese Prozesse meist zu Frustration – einem Cocktail von Traurigkeit und Wut. Wird dem Kind Zeit gegönnt sowie Akzeptanz zuteil, lernt es die beiden Gefühle zu unterscheiden und zu integrieren. Mit acht bis zehn Jahren wird es wissen, wie es über seine Begrenzungen traurig sein und wie es seine Wut in zielorientierte Ambition verwandeln kann. Ähnlich wird es lernen, wie man Freundschaften knüpft, wie man sich anderen Kindern in unterschiedlicher Weise nähert, und in der Folge entwickelt sich seine soziale Kompetenz. Diese Lernprozesse prägen sich in sein Gehirn ein und werden zu Verhaltensmustern, die dazu beitragen, dass das Kind ein gesundes Selbstwertgefühl entwickelt.
    Ein gesundes Selbstwertgefühl kann als ein besonnenes, nuancenreiches und bejahendes Selbstbild definiert werden – es ist der Schlüssel zur geistigen Gesundheit und zu einem starken psychosozialen Immunsystem.
    Lesen wir diese Definition noch mal aufmerksam, werden wir auch hier feststellen, dass es um ein Selbstbild jenseits von ›gut und böse‹, ›positiv und negativ‹, ›frech (unartig) und lieb‹ geht. Diese Tatsache unterscheidet ein gesundes Selbstwertgefühl von einem starken Selbstvertrauen oder einem aufgeblähten Ego. Menschliche Wesen sind weder gut noch böse – sie sind, was sie sind. Das ist jedenfalls die Art, wie wir sie in einem professionellen Setting betrachten sollten – egal, ob es sich dabei um Kinder, Jugendliche, Klienten oder sonstige Personen handelt.
    Das soll nicht heißen, dass ich die Moral als einen wichtigen Teil unserer Gesellschaft ablehne, sondern bloß das Recht von Therapeuten, Sozialarbeitern, Erziehern, Lehrern und Pädagogen, ihre beruflichen Erkenntnisse zu missachten und sie durch eine private Moral zu ersetzen – ungeachtet dessen, wie akzeptiert diese Moral sein mag. Wenn dies nämlich geschieht – im Moment geschieht es viel zu oft –, landen wir bei einem ethischen Problem, das die Vitalität und Lebenslust jener einschränkt, die Opfer sind, und das wiederum wirkt sich negativ auf die Fähigkeit aus, gesund zu sein und zu bleiben.
    Die Moral ist eine Ansammlung von persönlichen Glaubenssätzen und Werten, die das Verhalten jedes Einzelnen in einer Institution bestimmen – damit kommt die Belegschaft jeder pädagogischen Einrichtung klar. Das ist nicht nur unvermeidbar, sondern auch eine gute Sache, solange jeder Einzelne ermutigt wird, gleichzeitig seine persönlichen Grenzen zu bestimmen und zu vertreten. Hierin liegt der Schlüssel zum Umgang mit jeder Art aggressiven Verhaltens, zum Schutz der individuellen Integrität und zur Hilfestellung für den Aggressor, der auf diese Weise lernt, seine Aggression zu integrieren. Ich widme diesem Thema weiter unten ein gesondertes Kapitel (siehe Kapitel V . »Moral oder Existenz?« ).

Aggression der Erwachsenen
    In der heute überholten, superhierarchischen, patriarchalen Kleinfamilie war es üblich, Kinder zu sehen , aber nicht zu hören . Jedes hörbare Zeichen kindlicher Aggression gegen die Eltern stand der »natürlichen« Machtstruktur im Weg, das heißt, es wurde als ein Zeichen von Ungehorsam betrachtet und deshalb – aggressiv und konsequent – bestraft. Bis 1960 war die beliebteste und am meisten empfohlene Methode, Kinder großzuziehen, ein aggressiver Kritizismus, der keine Kompromisse kannte. Von dieser Tradition haben wir uns allmählich distanziert – zu Beginn hatten es viele Eltern schwer, als sie versuchten, nicht mehr an ihrer absoluten Macht festzuhalten. Trotzdem stoßen wir immer noch auf Eltern, die – wenn auch nur insgeheim – glauben, dass körperliche Strafe nicht nur notwendig, sondern auch förderlich sei. Selbst in Ländern wie den skandinavischen, in denen kaum noch jemand an diesem Glauben festhält, gibt es Eltern, die große Schwierigkeiten haben, anzunehmen, dass das Großziehen von Kindern ohne zumindest
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