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Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)

Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)

Titel: Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)
Autoren: Jesper Juul
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verbale Aggression auskommt. Ungefähr 55% der Eltern in Europa nehmen sich heraus, »hin und wieder« ihre Kinder körperlich zu züchtigen. Alte Gewohnheiten sind zäh, der Mensch ist ein Gewohnheitstier.
    Die Tradition, aggressive physische und verbale Züchtigung zu empfehlen, könnte zum Großteil für den erbärmlichen seelischen Zustand vieler Erwachsener über 50 verantwortlich sein. Und wenn wir auch jene Menschen dazurechnen, die unter den sehr häufig vorkommenden psychosomatischen Symptomen leiden, und jene, die legale Drogen konsumieren, dann steigt die Zahl der Opfer massiv. Vielleicht kann manch ein Erwachsener aus seinem speziellen Blickwinkel noch etwas Positives über die »guten alten Zeiten« äußern (die Zeiten, in denen Frauen und Kinder ihren Mund halten mussten und nur das taten, was von ihnen verlangt wurde!), doch setzt man den Maßstab bei individueller wie gesamtgesellschaftlicher Gesundheit und allgemeinem Wohlergehen an, waren und sind diese Zeiten eine sehr traurige Geschichte.
    Die Tatsache, dass Erzieher, Lehrer und Pädagogen ebenfalls Opfer elterlicher Aggression und Gewalt waren – so wie übrigens viele Erwachsene in anderen Berufen –, sie aber trotzdem mit Kindern und Jugendlichen anders umgehen und die Sünden ihrer Vorväter nicht wiederholen, verdankt sich ihrem eigenen moralischen Anspruch und ihrer Selbstdisziplin – sie haben meine Hochachtung! Dasselbe gilt für viele Eltern, die sich in derselben Situation befinden.
    Tatsache ist aber auch, dass der Großteil der Menschen, die beruflich mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, (noch) nicht in der Lage sind, ihre eigenen aggressiven Emotionen zu integrieren. Insbesondere Frauen, deren Vorgängerinnen über Jahrhunderte – weder als Kind noch als Erwachsene – aggressive Gefühle ausdrücken durften, haben damit Schwierigkeiten. Wie ich im Kapitel »Kinder sind Opfer« erklären werde: Es gibt sehr viele Dinge, die wir nicht erfolgreich tun können, wenn wir keinen vollen Zugang zu unserer Aggression haben und mit ihr nicht umgehen können. Eines davon ist, dass wir unsere persönlichen Grenzen nicht so ziehen können, dass andere sie respektieren.
    Unglücklicherweise gehört genau diese Fähigkeit zu den Schlüsselkompetenzen von Eltern, Erziehern, Lehrern und Pädagogen, ganz abgesehen davon, dass sie auch in Freund- und Partnerschaften unerlässlich ist. Der Mangel an persönlicher Autorität – vor allem im Umgang mit Kindern und Jugendlichen – ist zum Schicksal vieler Männer geworden, die beruflich mit ihnen arbeiten, doch sind auch Väter davon betroffen. Wenn ich mit ihnen spreche, versuchen sie mir immer zu erklären, dass sie nur eine einzige Alternative in sich selbst vorfinden: sich so zu verhalten wie ihre eigenen Väter und Großväter – diesen Weg aber lehnen sie dezidiert ab! [4]
    Zwei Phänomene stellen sich als Rettung für Erwachsene mit diesem Hintergrund ein. Zum einen der allgemeine Glaube, dass »Kinder Grenzen brauchen«; dieser alte Grundsatz hat überlebt. Der Begriff »Grenze« wird meist als Synonym für »Regel« verwendet. Selbstverständlich ist es ein Gemeinplatz, dass jede Menschengruppe eine Handvoll Regeln braucht, um gemeinsame Ziele zu erreichen, aber es gibt keinen wissenschaftlichen Beweis, dass Kinder einen speziellen Bedarf danach haben sollten. Indem Erwachsene dies jedoch annehmen, haben sie ein Alibi in der Hand, das ihnen erlaubt, mit »Konsequenzen« – dem postmodernen Begriff für »Strafe« – zu drohen.
    Zum anderen haben wir ein Set von neuen moralischen Maßstäben (Meinungen, Haltungen) etabliert, die von uns fordern, auf jeden Fall in einer nicht aggressiven Weise auf andere Menschen – einschließlich Kinder und Jugendliche – zuzugehen. Das ist selbstverständlich eine gute Nachricht! Das ist nicht nur beeindruckend, sondern fordert einem Bewunderung ab, in welchem Grad viele Erwachsene es geschafft haben, sich anzupassen und das einzudämmen, was seit Generationen völlig unreflektiert als Vorbild weitergegeben worden ist.
    Ich habe es mir vorbehalten, diese Leistung als Brücke zu betrachten zwischen dem, was war, und dem, was noch kommen wird, zwischen dem alten und dem neuen Paradigma.
    Gleichzeitig hat sich eine Interimskultur entwickelt. Sie kann in vielen verschiedenen Farben ausgemalt werden, doch kurz und knapp charakterisiert, bestimmt diese Kultur ein sanfter und feinfühliger, nie enden wollender Fluss von Erklärungen und eine romantische
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