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Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters

Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters

Titel: Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters
Autoren: T Rammstedt
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Ecken,
Deckung bietende Möbel und Mauervorsprünge. Sie haben Schusswinkel berechnet,
Zugriffszeiten, maximale Sprungdistanzen und wie lange Sie notfalls ohne zu atmen
unter Wasser bleiben könnten, auch wenn es da weit und breit kein Wasser gibt.
Sie haben Listen erstellt mit möglichen Tarnungen, Ablenkungsmanövern, Bluffs
und Doppelbluffs. Sie haben technische Daten von Drehstühlen recherchiert, von
Feuerlöschern und Druckkugelschreibern und dabei viel zu viel Kaffee getrunken.
Sie haben gar nicht gemerkt, dass es draußen bereits hell wurde. Sie fühlten
sich so wach wie schon lange nicht mehr. Und dann standen Sie am Fenster,
schauten hinaus in den anbrechenden Morgen Kaliforniens, Palmen, frühe Jogger,
und zerknüllten all ihre Pläne, zerrissen die Listen, die Berechnungen, weil
sich nicht alles planen lässt, weil man sich in manche Situationen einfach
hineinstürzen muss, ohne Plan, ohne Berechnung, nur darauf vertrauend, wieder
hinauszufinden und irgendwo zu landen, wo man es nie geahnt hätte.
    Sie haben die Pläne satt, Herr Willis. Sie haben es satt, sich
vorher immer alles auszumalen, weil es dann ja doch immer ganz anders wird und
es sich zwar gut anfühlt, wenn ein
Plan aufgeht, es sich aber noch viel besser anfühlt, wenn ein Plan aufgeht, von
dem man vorher nicht einmal ahnte, dass es ihn irgendwo da draußen überhaupt gibt.
    Sie wollen in diese Bank, Herr Willis. Oder nein: Sie sind längst
drin. Sehen Sie das endlich ein. Hören Sie auf, sich dagegen zu wehren. Wir
sind doch schon weiter. Es geht doch längst darum, wie Sie aus der Bank wieder
rauskommen. Lebend, aber nicht unversehrt. Sie wollen sich doch endlich wieder einmal versehren. Sie
wollen keine Rückenschmerzen, kein Sodbrennen, Sie wollen keine Karies, keine
Knieprobleme und keine Glutamatunverträglichkeit. Sie wollen eine verdammte
Schusswunde. Sie wollen ein unbehandelbares Problem. Hier ist es. Sie müssen
nur zugreifen.
    Schreiben Sie mir, dass Sie bereit sind. Oder schreiben Sie mir,
dass Sie nicht bereit sind, dass es aber auf das Bereitsein nie ankommt, weil
die Welt schließlich nicht immer geduldig warten kann, bis alle bereit sind,
sich mit ihr auseinanderzusetzen. Schreiben Sie mir das, Herr Willis, schreiben
Sie mir das auf der Stelle.
    Ihr
    Tilman Rammstedt
    »Ich bin eine äußerst facettenreiche Person«, erklärte mir
mein ehemaliger Bankberater, als wir nach unserem Termin noch ein kleines Bier
trinken wollten und stattdessen fünf große tranken. Das Dumme sei nur, dass
sich die Facetten so ungemein ähnlich sähen. So ähnlich, dass er sie selbst
kaum auseinanderhalten könne. »Da kann man nichts machen«, sagte er nach einem
langen Schluck aus seinem Glas. Und ich sagte: »Da kann man nichts machen«,
nach einem kurzen Schluck aus meinem.

Sehr geehrter Herr Willis,
    die Welt kann nicht warten, ich kann nicht warten, das
glückliche Ende kann nicht warten. Die Polizisten vor der Bank können nicht
mehr warten, die wollen zurück zu ihren Familien, zu ihrem richtigen Leben, und
mein Bankberater will auch endlich zu seinem richtigen Leben, deshalb ist er ja
hier, mitten in der Bank, mitten in der Ausweglosigkeit. Er kann am
allerwenigsten warten. Der Revolver liegt fremd in seiner Hand, als ob er nur
kurz für jemand anderen darauf aufpassen soll, der einfach nicht zurückkommt.
    Draußen ist es verdächtig still geworden, auch drinnen wagt niemand
zu sprechen. Man hört das leise Summen der Neonröhren, hin und wieder gluckert
der Wasserspender. Ich schaue meinen Bankberater an, und ich kann doch sehen,
dass Sie das sind, Herr Willis. Das sind doch Ihre Zähne, die in die Unterlippe
beißen. Das ist doch Ihr Blick, der da so flackert. Das sind doch Ihre
hängenden Schultern. Jetzt wäre der richtige Moment, sie wieder aufzurichten.
Genau jetzt wäre der richtige Moment, die Augen zu verengen, die Brust
rauszustrecken, laut auszuatmen und »Los geht’s« zu sagen, oder »Showtime« oder
meinetwegen nur noch einmal »In Ordnung«, weil es, wenn man keine Wahl hat,
doch nichts anderes als in Ordnung sein kann. Es wäre der richtige Moment, sich
selbst zu beweisen, wie gut es sich anfühlt, so etwas zu sagen. Und es wäre auf
jeden Fall der richtige Moment, mir endlich zu schreiben. Genau jetzt.
    Bis gleich,
    Ihr
    Tilman Rammstedt
    Bei einem unserer Termine hatte mein ehemaliger Bankberater ein
kleines Stoffkrokodil dabei. Er sprach an diesem Tag mit verstellter Stimme und
bewegte dabei den Kopf des Krokodils
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