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Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters

Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters

Titel: Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters
Autoren: T Rammstedt
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Willis,
    schade.
    Gute Nacht (bzw. Guten Abend),
    Ihr
    TR
    »Spielen Sie Schach?«, fragte mich mein ehemaliger
Bankberater einmal. Ich wusste nicht genau, worauf er hinauswollte, nickte
aber, und mein ehemaliger Bankberater nickte auch, als hätte er das schon geahnt.
»Schade«, sagte er, nahm seinen Kugelschreiber in die Hand und legte ihn dann
wieder zurück auf den Tisch.

Sehr geehrter Herr Willis,
    bestimmt mache ich mir zu viele Gedanken darüber, warum
Sie mir nicht antworten. Wahrscheinlich sind Sie nur gerade umgezogen und Ihr
Internet ist noch nicht installiert, vielleicht bin ich aus irgendeinem Grund
in Ihren Spam-Ordner geraten. Oder Sie haben mir längst schon geantwortet,
vielleicht sogar schon mehrmals, aber haben meine Adresse falsch gespeichert,
mein Vorname schreibt sich nur mit einem L und einem N, das wird oft falsch gemacht, am besten
antworten Sie einfach direkt auf diese Mail, dann müsste es klappen. Irgend so etwas
wird es sein, Herr Willis, und das ist sehr beruhigend.
    Manchmal befürchte ich nämlich, dass Sie mir nicht antworten, weil
es Ihnen noch schlechter geht als gedacht. Heute in den Wartezimmern
(Nachjustierung Knirscherschiene, seltsames Jucken am Hals, allgemeines
Unwohlsein) hoffte ich, irgendetwas Neues über Ihren Zustand zu erfahren, aber
in keiner der Zeitschriften wurden Sie erwähnt, und das bereitete mir gleich
noch größere Sorgen. Gehen Sie überhaupt noch vor die Tür, Herr Willis? Gehen
Sie überhaupt noch ans Telefon? Lesen Sie noch Ihre Mails? Herr Willis, waschen
Sie sich noch regelmäßig?
    Ihr
    Tilman Rammstedt
    Wenn mein ehemaliger Bankberater konzentriert nachdachte,
betrachtete er dabei seine Fingernägel. Es waren sehr schöne Fingernägel,
sorgsam gefeilt, von einem gleichmäßigen Rosa, auf dem sich perfekte Halbmonde
abzeichneten. Ich vermutete, dass mein ehemaliger Bankberater häufig nur
konzentriert nachdachte, um einen Anlass zu haben, seine Fingernägel zu
betrachten. Ich vermutete, dass er dabei oft vergaß, worüber er eigentlich
nachdenken wollte, und stattdessen über seine Fingernägel nachdachte. Das konnte
ich gut verstehen. Vieles schien plötzlich belanglos im Vergleich.

Sehr geehrter Herr Willis,
    Sie müssen sich nicht schämen. Glauben Sie mir, ich kenne
diese Tage gut, an denen man einfach keine Mails schreiben kann, an denen es
einem sogar unvorstellbar scheint, jemals wieder eine Mail zu schreiben, jemals
wieder den Müll runterzubringen, sich jemals wieder zu rasieren, jemals wieder
einen vollständigen Satz zu sprechen, ohne ihn irgendwo kurz nach der Mitte
versickern zu lassen, weil einem das Konzept »Satz«, das Konzept »sprechen«, das
Konzept »sich angeregt unterhalten« auf einmal so wahnsinnig fremd erscheint.
Fast genauso fremd wie das Nachmittagsprogramm im Fernsehen, das man dennoch weiter
schaut, auch wenn man sich sagt, dass man noch eine Chance hätte, wenn man es
genau jetzt ausschalten würde, genau jetzt, und das ist doch wirklich machbar,
aber dann lässt man die Chance verstreichen, und es tobt nur noch leise in
einem, weil man keine Chancen mehr will, weil man nicht noch einmal hoffen
will, um dann doch wieder zu scheitern, in ein paar Stunden, am nächsten Tag,
der nächsten Woche, das ist fast egal.
    Ich kenne das wirklich gut, und ich weiß, wie wichtig dabei kleine
Schritte sind. Bringen Sie zunächst einmal einen Joghurtbecher hinunter. Wenn
Sie es nicht bis zur Mülltonne schaffen, genügt es für den Anfang, ihn bis zur Haustür
zu bringen. Unterteilen Sie Ihr Gesicht in mehrere kleine Abschnitte und
rasieren Sie zunächst einmal einen davon, zum Beispiel die rechte Schläfe.
Schreiben Sie keine ganze Mail, sondern nur ein Wort. Schreiben Sie mir ein
»Hallo« oder, wenn Ihnen das zu mühsam erscheint, ein »Hi«. Das ist möglich,
glauben Sie mir.
    Sollte das aber trotzdem noch zu schwierig sein, verzweifeln Sie
nicht gleich. Schreiben Sie mir gar nichts, antworten Sie einfach mit einer
leeren Mail, auch das ist ein erster Schritt. Sie müssen ihn nur machen, so
schnell wie möglich. Lenken Sie das Zögern mit irgendetwas ab. Sie schaffen
das, Herr Willis, ich glaube an Sie.
    Ihr
    Tilman Rammstedt
    Dass er leider nicht hellsehen könne, sagte mein ehemaliger
Bankberater, als es um langfristige Renditen ging. Er schien das aufrichtig zu
bedauern.

Sehr geehrter Herr Willis,
    bitte verzeihen Sie. Ich wollte Ihnen in meiner letzten
Mail nicht zu nahe treten. Natürlich können Sie den Müll
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