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Abdruecker (Splattergeschichten)

Abdruecker (Splattergeschichten)

Titel: Abdruecker (Splattergeschichten)
Autoren: Ella Bach
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sagt sie.
    „ Es passt nicht zu deinem Beruf, dass du Alkoholikerin bist.“
    „ Zu dem Beruf, den ich heute ausübe, passt es.“
    „ Und was machst du?“
    Sie schweigt. Ihre Gedanken sind woanders.
    „ Wie lange ist das her?” frage ich.
    Sie hebt fragend den Kopf.
    „ Dass du oben warst?“
    Es ist etwas Verträumtes in ihren Augen, als sie antwortet: „Es sind jetzt vier Jahre seit dem letzten Mal. Man braucht jedes Mal sechs Wochen, bis man den Einsatz verkraftet hat. Damals war es länger. Es waren keine sechs Wochen, sondern sechs Monate. Und vielleicht verwindet man es nie, egal, wie lange man am Schreibtisch sitzt und ganz andere Aufgaben behandelt.
    „ Was gibt es da für, ich meine ...”
    „ Es gibt geistige Probleme, seelische und körperliche Probleme. Für jede Ebene gibt es einen Arzt. Meine Seele braucht die Musik. Rachmaninoff.“
    Ich bin von der Vorstellung, einem Menschen gegenüber zu sitzen, der die Schwerkraft der Erde verlassen und völlig abgekoppelt im Raum auf die Erde herab geblickt hat wie wir auf den Mond schauen, gefangen genommen.
    „ Es gibt keine bessere Darstellung des Gefühls, wie das ist, hinaus in das Weltall zu kommen als das Moderato im 2. Klavierkonzert. Man hat das Gefühl, als sei Rachmaninoff da gewesen.“
    „ Ja, wie ist das?“
    „ Höre seine Musik. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Das erste Mal ist man zu aufgeregt, um es wahrzunehmen. Und dann hat man ja auch was zu tun, so ist es nicht. Alle Sinne sind angespannt. Aber wenn man es einmal kennt, und ich habe es elf Mal erlebt, dann weiß man, was es bedeutet, ohne Schwerkraft zu leben. Und gerade der Moment, wo sie weg fällt, ist dann besonders schön. Man wird geboren im fünften Element.“
    „ Und wenn man zurückkehrt?“
    „ Ja, das ist ein kleiner Tod.“ Das Wort scheint ihr so unangenehm zu sein, dass sie davon aufsteht und fragt: „Gehen wir auf mein Zimmer? Es ist hier sehr wenig privat.“
     
    Wir sind im Aufzug allein, und sie schaut geradeaus, als würden wir nicht miteinander in die Kabine gestiegen sein. Miteinander in die Kabine gestiegen – das klingt wie eine Metapher für etwas, das auch miteinander in die Kiste steigen heißt, oder? Aber doch passend zu dem Abend. Leicht betrunken in einer fremden Stadt hat man ein Gefühl wie jemand, der das erste Mal mit einer Seilbahn einen Berg hochfährt.
    „ Wie schlimm ist das körperlich, wenn man da zurückkommt, man hat doch Gleichgewichtsstörungen, oder?” frage ich, weil ich die Distanz zwischen uns nicht mehr aushalte.
    Der Lift stoppt und die Türen gehen auf. Wir sind im 37. Stockwerk. Wir gehen zu ihrem Zimmer. Sie schließt auf. Das Zimmer sieht so aus wie meines. Es gibt nur einen großen Sessel, da setzt sie sich drauf. Ich schaue mich im Raum um und lege mich dann einfach auf ihr Bett, richte mir das Kissen zurecht und schaue sie erwartungsvoll an. Jeka registriert mein Interesse, das über das erwartete Maß hinaus geht. Sie scheint dergleichen zu kennen, wie man ihrem milden Lächeln entnimmt. Wahrscheinlich hat sie schon öfters darüber gesprochen. „Ja. Das Laufen ist völlig weg. Man kommt ständig aus dem Gleichgewicht. Man biegt ums Eck und berücksichtigt die Kurvendynamik nicht und liegt einfach da. Das ist oben anders. Man stößt sich ab und schwebt geradlinig dorthin, wo man will. Man ist es gewöhnt, wenn man einem was zuwirft, dass es dort ankommt. Am Anfang kann man es gar nicht glauben, dass alles zu Boden fällt, das kommt einem vor wie Spuk.”
    „ Also man verlernt dabei die Schwerkraft.”
    „ Ja, und das ist ein großartiges Gefühl. Ich kann mich noch gut daran erinnern, nach dem Start, wie das ist, wenn die Schwerkraft wegfällt. Zuerst hat man Kopfschmerzen, das ist die erste Phase. Ein Druckgefühl. Die Flüssigkeit schießt in den Kopf und die Halsmanschette drückt einem die Halsvenen ab. Dann hat man auch noch die Windeln, die man tragen muss, voll, mit du weiß was?“
    „ Ja.“
    „ Der Start ist wie eine Operation, bei der man lange auf den Operateur warten muss. Man hat schon stundenlang mit den Füßen hoch gelegen wie auf einem gynäkologischen Stuhl, und man kann sich nicht rühren, und als erstes muss man dringend, und es geht nicht, und dann kommt die Operation, und die ist wie ein Schlag auf den Kopf. Der Start, das ist ein Donnern, bei dem man glaubt, es platzen einem die Trommelfelle, und man schwingst in der Kapsel hin und her, und alles vibriert, und das geht einem durch Mark
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