~900 Meine Reise auf dem spanischen Jakobsweg. (German Edition)
Frequenz.
Ich träume vor mich hin. Die Augen von Chrísten gehen mir nicht aus dem Kopf. Nur kurz haben wir uns unterhalten. Wie fesselnd doch Augenblicke sein können. Ein winziger Moment, schon schwirren sie mir einen ganzen Tag im Kopf herum, bis sie verglühen wie Sternschnuppen, eine Brandspur hinterlassend. Woher diese Tiefe? Welche Sehnsucht hat sie auf den Weg getrieben? Sie spricht nicht darüber, doch hinter den Pupillen glühen sie grau.
30.08.08 21km nach Santo Domingo de la Calzada - Ein Chinese; Ein Mythos
Irgendjemand hat das große Schild in der Eingangshalle der Herberge nicht gelesen. Darauf steht in großen schwarzen Lettern: NICHT VOR SECHS UHR AUFSTEHEN. Es muss wohl etwa fünf Uhr sein, als der erste aufsteht. Der Schlafsack raschelt, der Reißverschluss des Rucksacks sirrt mehrfach. Plastiktüten knistern durch die Dunkelheit. Als er endlich gegangen ist, sind mehrere andere aufgewacht. Die ersten davon fangen ebenfalls an die Abreise zu bereiten. Die typische Kettenreaktion des Morgens, der nicht widerstanden werden kann. Viele haben immer noch nicht bemerkt, dass der Rucksack auch im Vorraum, in der Küche, oder zur Not draußen gepackt werden kann . Du könntest dich schlafen stellen. Nein, macht keinen Sinn mehr, ich bin inzwischen hellwach. So laufe ich schon um halb sieben durch die Straßen von Najera und suche nach Wegweisern. Im Dunklen sind sie kaum zu erkennen, meine Taschenlampe hilft nur wenig.
Als ich mich den Aufstieg zu ersten Stadt hinauf quäle bemerke ich, dass die Sonne heute genau so früh wach ist wie ich. Schnell wird es heiß und heißer. Manche treibt die Hitze an, andere verleitet sie zu längeren Pausen. Kalt ist nun wirklich niemandem mehr. Der spanische Sommer zeigt sich wieder einmal von seiner besten Seite. Schweiß läuft über mein Gesicht, die Sonnencreme in meine Augen – Zwangspause, denn ich sehe nun nichts mehr. Sehend stolpere ich schon genug, blind zu gehen riskiere ich nicht.
Auf dem Weg treffe ich Xio, der sich in einem traditionellen chinesischen Pilgergewand auf den Weg begeben hat. Er spricht gut Englisch, so dass ich ihn ausfrage über seine Kultur und die Gründe, die ihn bewegt haben zu gehen. Er erzählt viel, so dass ich es nicht recht wiedergeben kann, doch klingt seine Stimme auch später immer wieder in meinem Kopf. So tief gläubig Xio ist, so sehr zweifelt er auch an dem seltsamen Wesen Gott. Immer wieder versucht er sich selbst zu bestätigen, immer wieder scheitert er an sich selbst. Sein inneres Zwiegespräch trägt er nach außen, redet mit sich selbst, mit mir und indirekt wohl auch mit Gott. Ein Gebet im Gespräch, den Wunsch zum Ursprung, endlich zu finden was er sucht.
Das Gespräch trägt mich locker über die letzten zwei Kilometer. Das linke Knie schmerzt wieder weniger. Natürlich das rechte dafür mehr. Mir ist unerklärlich nach welchen Kriterien die beiden sich abwechseln.
Angekommen und in der Herberge eingerichtet suche ich erst einmal nach Christen, mit der ich heute ein Bier trinken wollte. In den zwei Tagen, die ich sie kenne ist sie zu einem Mythos geworden. Sucht man sie, ist sie so schnell und gründlich verschwunden, dass keine Chance besteht sie zu finden. Erwartet man sie nicht, steht sie schon wieder da. Weil ich sie suche, finde ich sie nicht. Doch das Dorfleben lenkt mich zunehmend ab. Es wird ein kleines Volksfest gefeiert. Was genau verstehe ich nicht und die anderen Pilger können es mir auch nicht erklären. Jemand meint es sei ein Geburtstag. Plötzlich laufen zwei Kerle in Frauenkleidern durch die Straße und necken Bekannte, Freunde und all jene, die ihren Weg kreuzen. Sie werfen mit Wasserbomben, tanzen quer durch die Menge. Ich lache herzhaft, habe Christen fast schon wieder vergessen.
Abends kehre ich nicht erschöpft, aber doch mit schwerem Kopf und schweren Füßen in die Herberge zurück. Dem gemeinsamen Essen schließe ich mich nicht an. Der Herbergsvater hat geladen. Mir ist es zu spät und ich brauche Ruhe.
Ich bin erstaunt wie lange ich es schon ausgehalten habe unter so vielen Menschen zu sein. Bin ich daheim, brauche ich abends viel Ruhe. Hier ist meist alles anders. Aber heute schreien meine Ohren nach ein wenig Stille. Dankbar bin ich über die ruhige Nacht in der ich zum ersten Mal auf dem Jakobsweg bewusst träume. Als ich jedoch den Traum einzufangen versuche verschwimmt er, gleitet durch meine Finger, er möchte wohl nicht gebannt werden auf weißes Papier. Er
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