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219 - Kaiserdämmerung

219 - Kaiserdämmerung

Titel: 219 - Kaiserdämmerung
Autoren: Mia Zorn
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Unterkunft. Irgendwann werde ich es wieder gut machen.«
    »Warum irgendwann? Wenn du sowieso noch nicht weißt, wo du hin willst, bleib bei mir. Du kannst mir ein wenig zur Hand gehen, und ich werde dir einige Geheimnisse über dich und dein Leben verraten, Victorius de Rozier.« Der Eremit steckte sich eine Dattel in den Mund. Genüsslich kauend, lächelte er Victorius erwartungsvoll an.
    ***
    3. April 2524, im Südosten des Victoriasees
    Der Abend brachte einen lauen Wind über den See. Er strich durch Papyrusstauden und Schilfgräser am Ufer vor dem kleinen Dorf Kishu. Scharen von Graufischer, Hammerkopf und Nimmersatt umringten die jungen Männer, die schwere Körbe am Strand ausleerten. Die Vögel flatterten auf, als die Fische in einem silbernen Schwall aus den Körben glitten. Mit grellen Pfiffen und schnarrendem Krächzen fielen sie über das willkommene Futter her.
    Auf dem Deich oberhalb des Strandes hatten sich einige Kishuaner eingefunden. Neugierig beobachteten sie das Treiben am See. Ein dünner Mann mit rotem Turban und grauen Bartstoppeln schüttelte unwillig den Kopf. »Noch nie haben die Menschen am See ihren Fang an die Vögel verfüttert. Solange ich zurückdenken kann: noch nie! Das ist nicht richtig! Nicht richtig!«, schimpfte er.
    Die Umstehenden nickten ihrem Dorfältesten beipflichtend zu. Nur seine Frau hob abwehrend die Hand. »Was ist schon richtig in diesen Tagen? Die seelenlosen Gruh, die aus der Erde im Osten krochen? Die Feuerflut, die uns der Götterberg bescherte? Oder die Forderung des Kaisersohnes nach noch mehr Abgaben! Was an all dem ist schon richtig?« Jetzt stimmten die Umstehenden ihr zu.
    Seine Frau hatte recht: Nichts schien mehr richtig in diesen Tagen. Das Land blutete immer noch aus den Wunden, die die Gruh und der Vulkanausbruch des Götterberges ihm geschlagen hatten. Was verschont geblieben war, war vor Wochen den Frakken zum Opfer gefallen. Rund um den Victoriasee hatten die gierigen Tiere die Felder kahl gefressen. Wochen nach ihrem Durchzug sammelten die Leute immer noch die Kadaver von Rindern, Ziegen und Schafen ein. Und jetzt dies:
    Vor zehn Tagen waren Boten des Kaisers erschienen. Sie teilten mit, dass die übliche Unterstützung von Wimereux-à-l’Hauteur nach einer der zwei jährlichen Frakkenplagen ausbleiben würde. Außerdem wäre ein größerer Bedarf an Fisch für die Gebiete um Kilmalie entstanden. Das Land dort war verwüstet von den Kämpfen mit den Gruh. Von verseuchten Tieren war die Rede. Den Menschen dort drohe der Hungertod, sagten sie. Bis die alte Ordnung wieder hergestellt wäre, müsste das Volk zusammenhalten. Die, die hatten, sollten denen geben, die nichts hatten!
    So weit, so schlimm. Aber dann verlangten sie im Namen des vorübergehenden Regenten Prinz Akfat de Rozier auch noch höhere Steuern. »Der Gruh-Krieg hat die Kassen des Kaisers geschröpft!«, entgegneten sie den murrenden Leuten. Und was mit dem Kaiser wäre? Der sei zu einer Reise aufgebrochen, sagten die Boten. Wohin, das wisse keiner.
    Es schien, als habe der selbst ernannte Kaiser sein Volk im Stich gelassen und das Reich in die Hände eines seiner unfähigen Nachkommen gegeben. Schon das allein erregte die hilflose Wut der Bevölkerung. Und woher sollte Kishu das Geld für die Steuern nehmen, wenn sie ihren Fisch nicht verkaufen konnten? Die Menschen in Tansania brauchten jetzt jeden Jeandor, um neues Saatgut und Vieh zu kaufen, um ihre Häuser auszubessern, um die medizinische Versorgung ihrer Kranken zu bezahlen.
    Der Mann mit dem roten Turban seufzte. Und jetzt holen sie noch nicht einmal den geforderten Fang ab. Zwei Tage hatten sie vergeblich gewartet. Das alles bedeutete Unheil. Das spürte er genau. Besorgt blickte er hinunter zum Strand: Inzwischen stritten sich die Vögel um die Fische. Mit spitzen Schnäbeln hakten sie aufeinander ein. »Noch nie hat Wimereux-à-l’Hauteur versäumt, die Rationen für die Kahlfraß-Gebiete pünktlich abzuholen. Noch nie hat der Kaiser nach einem Frakkendurchzug Steuerzahlungen von uns verlangt!« Er wandte sich seinen Leuten zu und hob hilflos die Arme.
    Sein Sohn klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. »Es wird schon seine Gründe haben, warum sie die Fische nicht abgeholt haben. Vielleicht gibt es Schwierigkeiten mit den Transportmitteln oder nicht genügend Männer, die den Fang in die betroffenen Gebiete bringen können.« Seine Worte beruhigten den Ältesten nicht. Mit zusammengepressten Lippen starrte er an seinem
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