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1913

1913

Titel: 1913
Autoren: Florian Illies
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Kraft zusammen und schreibt an C. G.Jung nach Küsnacht: »Ihre Voraussetzung, dass ich meine Schüler wie Patienten behandle, sind nachweisbar unzutreffend.« Und dann: »Im übrigen ist Ihr Brief nicht zu beantworten. Er schafft eine Situation, die im mündlichen Verkehr Schwierigkeiten bereiten würde, im schriftlichen Wege ganz unlösbar ist. Es ist unter uns Analytikern ausgemacht, dass keiner sich seines Stückes Neurose zu schämen braucht. Wer aber bei abnormen Benehmen unaufhörlich schreit, er sei normal, erweckt den Verdacht, dass ihm die Krankheitseinsicht fehlt. Ich schlage Ihnen also vor, dass wir unsere privaten Beziehungen überhaupt aufgeben. Ich verliere nichts dabei, denn ich bin gemütlich längst nur durch den dünnen Faden der Fortwirkung früher erlebter Enttäuschungen an Sie geknüpft.« Was für ein Brief. Ein Vater, vom Sohn herausgefordert, sticht wütend zurück. Nie ist Freud so in Rage geraten wie in diesen Januartagen, nie habe sie ihn so deprimiert erlebt wie in jenem Jahr 1913 , wird Anna, seine geliebte Tochter, später erzählen.
    C. G. Jung antwortet am 6 . Januar: »Ich werde mich Ihrem Wunsche, die persönliche Beziehung aufzugeben, fügen. Im übrigen werden Sie wohl am besten selber wissen, was dieser Moment für Sie bedeutet.« Das schreibt er mit Tinte. Und dann setzt er maschinengeschrieben hinzu, es wirkt wie ein Grabstein für eine der großen intellektuellen Männerbeziehungen des 20 . Jahrhunderts: »Der Rest ist Schweigen«. Es ist eine schöne Ironie, dass einer der meistgedeuteten und meistbeschriebenen und meistdiskutierten Brüche des Jahres 1913 mit einem Schweigegelöbnis beginnt. Von diesem Moment an arbeitet sich Jung an Freuds Methoden ab und Freud umgekehrt an denen von Jung. Und vorher definiert er noch einmal ganz genau den Vatermord bei den Naturvölkern: Sie setzen Masken des gemordeten Vaters auf – und beten ihr Opfer dann an. Das ist ja schon fast Dialektik der Aufklärung.
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    Doch zunächst sind wir noch beim Dialekt der Aufklärung. Der zehnjährige Theodor W. Adorno, Spitzname »Teddie«, wohnt in der Schönen Aussicht 12 in Frankfurt am Main, wird aufgeklärt und lernt Hessisch. Zentrale Bezugsperson neben seiner Mama ist die Schimpansin Basso im Frankfurter Zoo. Frank Wedekind, Autor von »Frühlings Erwachen« und der »Lulu«, ist in jener Zeit befreundet mit Missie, einer Schimpansin aus dem Zoologischen Garten in Berlin.
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    Marcel Proust sitzt in seinem Arbeitszimmer am Boulevard Haussmann 102 in Paris und baut sich seinen eigenen Käfig. Weder Sonnenlicht noch Staub noch Lärm dürfen ihn beim Arbeiten stören. Eine sehr spezielle Work-Life-Balance. Er hat sein Arbeitszimmer mit dreifachen Vorhängen verhängt und die Wände mit Korkplatten tapeziert. In dieser Schallschutzkammer sitzt Proust bei elektrischem Licht und schickt überhöfliche Neujahrsbriefe, wie jedes Jahr, mit der dringenden Bitte, ihn künftig mit Geschenken zu verschonen. Er wurde zwar immer wieder eingeladen, aber wer es tat, wusste, wie anstrengend es war, weil er zuvor mehrfach Mitteilungen und Billetts schickte, ob er nun komme oder nicht und warum wahrscheinlich eher doch nicht etc., ein Zauderer vor dem Herrn, dem in dieser Disziplin eigentlich nur Kafka das Wasser reichen konnte.
    Hier also in der Schallschutzkammer des Geistes sitzt Marcel Proust und versucht sich an seinem Roman über das Erinnern und die Suche nach der verlorenen Zeit. Der erste Teil daraus soll »Eine Liebe von Swann« heißen, und er schreibt mit feiner Tinte den letzten Satz aufs Papier: »Die Wirklichkeit, die ich einst kannte, existierte nicht mehr. Die Erinnerung an ein bestimmtes Bild ist wehmutsvolles Gedenken an einen bestimmten Augenblick; und Häuser, Straßen, Avenuen sind flüchtig, ach! die Jahre.«
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    Kann Erinnerung nur wehmutsvolles Gedenken sein? Gertrude Stein, die große Pariser Salondame und Freundin der Avantgardisten, friert ein paar Straßen von Proust entfernt. Sie streitet sich ungeheuer mit ihrem Bruder Leo, ihre jahrzehntelange Wohngemeinschaft droht auseinanderzubrechen. Ist alles flüchtig? Sie träumt vom Frühling. Sie wärmt sich an einem Gedanken. Sie schaut sich die Picassos und die Matisses und die Cézannes an ihrer Wand an. Aber macht ein Gedanke schon einen Frühling? Sie schreibt ein kleines Gedicht, darin der Satz: »Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose«. Genau wie Proust will sie etwas festhalten, was vergehen will. So weit ist die Welt
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