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1913

1913

Titel: 1913
Autoren: Florian Illies
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den Namen Nofretete. Noch ist sie nicht die berühmteste Frauenbüste der Welt.
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    Es ist ein völlig überdrehtes Jahr. Kein Wunder also, dass der russische Pilot Pjotr Nikolajewitsch Nesterow mit seinem Kampfflugzeug 1913 den ersten Looping der Menschheitsgeschichte flog. Und dass der österreichische Eiskunstläufer Alois Lutz auf einem zugefrorenen See im bitterkalten Januar sich so gekonnt in der Luft drehte, dass dieser Sprung bis heute den Namen Lutz trägt. Man muss dafür rückwärts Anlauf nehmen, dann muss man von der Auswärtskante des linken Beins abspringen. Die Drehung wird erreicht, indem man die Arme ruckartig an den Oberkörper reißt. Für den doppelten Lutz macht man das, logisch, zweimal.
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    Vier Wochen wird Stalin in Wien bleiben. Nie wieder wird er Russland für so lange Zeit verlassen, die nächste längere Auslandsreise wird ihn dreißig Jahre später nach Teheran führen, seine Gesprächspartner heißen dann Churchill und Roosevelt (der eine war 1913 englischer Marineminister, der andere kämpfte als Senator in Washington gegen die Abholzung der amerikanischen Wälder). Stalin verlässt sein geheim gehaltenes Versteck in der Schönbrunner Schloßstraße Numero 30 bei den Trojanowskis nur selten, er ist komplett damit beschäftigt, seinen Aufsatz »Der Marxismus und die nationale Frage« zu verfassen – ein Auftrag von Lenin. Nur ganz manchmal, am frühen Nachmittag, vertritt er sich die Füße im nahen Park von Schloss Schönbrunn, der kalt und wohlgeordnet daliegt im Januarschnee. Einmal am Tag gibt es eine kurze Aufregung, wenn der Kaiser Franz Joseph das Schloss verlässt und mit seiner Kutsche in die Hofburg zum Regieren fährt. Unglaubliche fünfundsechzig Jahre, seit 1848 , ist Franz Joseph jetzt an der Macht. Den Tod seiner geliebten Sissi hat er nie verwunden, bis heute hängt ihr lebensgroßes Porträt über seinem Schreibtisch.
    Der greise Monarch geht gebeugt die paar Schritte zur dunkelgrünen Kutsche, sein Atem hinterlässt eine kleine Wolke in der kalten Luft, dann schließt ein livrierter Diener die Tür, und die Pferde traben los durch den Schnee. Dann wieder Stille.
    Stalin geht durch den Park, denkt nach, es dämmert schon. Da kommt ihm ein anderer Spaziergänger entgegen, 23 Jahre alt, ein gescheiterter Maler, dem die Akademie die Aufnahme verweigerte und der nun die Zeit totschlägt im Männerwohnheim in der Meldemannstraße. Er wartet, wie Stalin, auf seine große Chance. Sein Name ist Adolf Hitler. Vielleicht haben sich die beiden, von denen ihre Bekannten aus dieser Zeit erzählten, dass sie beide gerne im Park von Schönbrunn spazieren gingen, einmal höflich gegrüßt und den Hut gelüpft, als sie ihre Bahnen zogen durch den unendlichen Park.
    Das Zeitalter der Extreme, das schreckliche kurze 20 . Jahrhundert, beginnt an einem Januarnachmittag des Jahres 1913 in Wien. Der Rest ist Schweigen. Selbst als Hitler und Stalin 1939 ihren verhängnisvollen »Pakt« schlossen, sind sie sich nicht begegnet. Sie waren sich also nie näher als an einem dieser bitterkalten Januarnachmittage im Park von Schloss Schönbrunn.
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    Die Droge Ecstasy wurde erstmals synthetisiert, das ganze Jahr 1913 über läuft der Patentantrag. Dann aber gerät sie für einige Jahrzehnte in Vergessenheit.
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    Da meldet sich endlich Rainer Maria Rilke! Rilke ist auf seiner Flucht vor dem Winter und seiner Schaffenskrise im südspanischen Ronda gelandet. Die Reise nach Spanien hatte ihm eine Unbekannte in einer nächtlichen Séance befohlen, und da Rilke zeitlebens angewiesen war auf die Handlungsanweisungen reifer Damen, musste er offenbar zu okkulten Zwischenreichbewohnerinnen greifen, wenn die realen Mäzenatinnen und Geliebten ihm gerade keine Order zu erteilen wussten. Nun also residiert er in Ronda im schicken Hotel Reina Victoria, einem britischen Haus auf neuestem Stand, aber jetzt, außerhalb der Saison, fast leer. Brav schreibt er von hier oben jede Woche an »die liebe gute Mama«. Und an die anderen fernen Damen, mit denen er gemeinsam so schön schmachten kann, an Marie von Thurn und Taxis, an Eva Cassirer, Sidie Nádherný, an Lou Andreas-Salomé. Wir werden noch hören von diesen Damen in diesem Jahr, keine Sorge.
    Zur Zeit steht Lou, die Frau, die ihn entjungferte und ihn überredete, das René seines Vornamens zu Rainer aufzumöbeln, plötzlich wieder sehr hoch im Kurs: »Wenn wir uns nur sehen, liebe Lou (das Wort »liebe« dreimal unterstrichen), das ist jetzt meine große
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