Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
04 - Die Tote im Klosterbrunnen

04 - Die Tote im Klosterbrunnen

Titel: 04 - Die Tote im Klosterbrunnen
Autoren: Peter Tremayne
Vom Netzwerk:
genannt.
    In dem mit Steinen gepflasterten Gang vor der Kapelle hielt sie inne und lauschte. Sie hörte das seltsame Schlurfen lederbesohlter Sandalen auf dem Steinboden. Um die Ecke am anderen Ende des dämmrigen Korridors, der von qualmenden Fettkerzen in eisernen Kerzenhaltern an den Wänden erhellt wurde, bog eine Prozession von Vermummten, die, in dunkle Gewänder und Kapuzen gehüllt, in Zweierreihen näherkamen. Die Schwestern wurden von der imposanten, hochgewachsenen Gestalt der Oberin des Ordens angeführt und sahen aus wie Gespenster, die im Halbdunkel des Ganges ihr Unwesen trieben. Sie gehörten zur Gemeinschaft der Abtei Der Lachs aus den Drei Quellen – eine Umschreibung für den Namen Christi. Gesenkten Hauptes, ohne aufzublicken, schlurften sie an Schwester Brónach vorbei. Nicht einmal Äbtissin Draigen nahm von ihrer Anwesenheit Notiz. Die Schwestern betraten schweigend die Kapelle, um dort ihr Mittagsgebet zu verrichten. Die letzte hielt kurz inne und schloß hinter der Prozession die Tür.
    Während sie an ihr vorbeischritten, hatte Schwester Brónach mit gefalteten Händen und ehrfürchtig gesenktem Kopf gewartet. Erst als die Kapellentür leise hinter ihnen ins Schloß fiel, blickte sie auf. Es war kein Zufall, daß Schwester Brónach, die Sorgenvolle, diesen Namen trug: ihre Miene wirkte tatsächlich zutiefst bekümmert. Niemand hatte die Nonne in mittleren Jahren je lächeln sehen, geschweige denn irgendeine Gefühlsregung bei ihr wahrgenommen. Die Linien ununterbrochener, schmerzlicher Betrachtungen schienen sich tief in ihre Gesichtszüge eingegraben zu haben. Unter ihren Mitschwestern kursierte die respektlose Redensart, wenn Brónach je lächelte, könne die Wiederkunft des Erlösers nicht mehr weit sein.
    Seit fünf Jahren war Schwester Brónach die doirseór , die Pförtnerin der Gemeinschaft Der Lachs aus den Drei Quellen. Diese war vor mehreren Generationen von der Heiligen Necht, der Reinen, gegründet worden. Das Kloster lag am Fuß der Berge in einer schmalen, bewaldeten Meeresbucht auf einer entlegenen Halbinsel im Süden des irischen Königreiches Muman, dem südwestlichsten der fünf Königreiche von Éireann. Brónach war der Gemeinschaft vor dreißig Jahren beigetreten, als junge, schüchterne Frau mit wenig Unternehmungsgeist. Sie hatte hier Zuflucht gesucht, genau genommen eine Alternative zu dem harten und mühsamen Leben in ihrem abgelegenen Inseldorf. Jetzt, in mittleren Jahren, war Brónach noch genauso schüchtern und ohne Unternehmungsgeist wie damals. Sie war es zufrieden, ihr Leben nach dem Gongschlag zu richten, der von dem kleinen Turm der Abtei ertönte, wo die Zeitnehmerin die Wasseruhr überwachte. Das Kloster war im ganzen Königreich berühmt für seine bemerkenswerte Methode der Zeitmessung. Immer, wenn der Gong geschlagen wurde, hatte die Pförtnerin bestimmte Pflichten zu erfüllen. Die Bezeichnung für ihr Amt, doirseór , klang zwar recht hochtrabend, bedeutete jedoch nicht viel mehr als ›Mädchen für alles‹. Dennoch schien Brónach mit ihrem Los zufrieden.
    Der Gong hatte gerade die Mittagsstunde angekündigt, und es war nun Schwester Brónachs Pflicht und Schuldigkeit, Wasser aus dem Brunnen zu holen und in Äbtissin Draigens Gemächer zu bringen. Nach den Mittagsgebeten und der Mahlzeit nahm die Äbtissin gern ein heißes Bad. Deshalb pflegte sich Brónach, anstatt gemeinsam mit den anderen Schwestern dem Gottesdienst beizuwohnen, zurückzuziehen und um das Wasser zu kümmern.
    Die Hände unter dem Gewand gefaltet und begleitet vom Klappern ihrer Ledersandalen auf den Granitsteinen eilte Schwester Brónach hinaus auf den großen Innenhof, um den herum die Wohngebäude der Gemeinschaft standen. Am frühen Morgen hatte es kurz geschneit, doch war der Schnee bereits geschmolzen, und das Pflaster unter dem Schneematsch war glitschig. Sie ging jedoch sicheren Schrittes über den Platz, vorbei an der bronzenen Sonnenuhr, die in seiner Mitte auf einem Sockel aus poliertem Schiefer stand.
    Trotz des kalten, winterlichen Wetters war der Himmel von einem durchscheinenden Blau, und die blasse Sonne stand hoch oben inmitten einer Schar vereinzelt dahinschwebender Wölkchen. Am Horizont sammelten sich schwere, tiefhängende Schneewolken, und Brónach spürte die eisige Luft an den Ohren und zog ihre Kapuze schützend enger um den Kopf.
    Am Ende des Hofes ragte ein hohes Granitkreuz auf, das dem Kloster geweiht war. Brónach schritt durch eine schmale Pforte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher