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01_Der Fall Jane Eyre

01_Der Fall Jane Eyre

Titel: 01_Der Fall Jane Eyre
Autoren: Jasper Fforde
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dichten,
    wildwuchernden Wald von Mikrofonen. »Was im Jahre 1854 als
    halbherziger Versuch seinen Anfang nahm, die russische
    Expansionspolitik einzudämmen«, proklamierte der Abgeordnete, »ist
    im Lauf der Jahre zu einem durchsichtigen Manöver verkommen, das
    keinem anderen Zweck dient als der Aufrechterhaltung des
    Nationalstolzes …«
    Ich schaltete auf Durchzug. Ich hatte all das schon tausendmal
    gehört. Ich trank noch einen Schluck Kaffee; der Schweiß auf meiner
    Kopfhaut juckte. Duff-Rolecks’ Rede wurde mit Archivaufnahmen
    von der Krim unterlegt: Sebastopol, eine schwerbefestigte englische
    Garnisonsstadt, von deren architektonischem und historischem Erbe
    wenig übriggeblieben war. Immer wenn ich diese Bilder sah, roch ich
    den beißenden Gestank von Kordit und hörte das Krachen
    explodierender Granaten. Automatisch strich ich mir mit dem Finger
    über das einzige äußerliche Andenken, das ich von meinem
    Kriegseinsatz zurückbehalten hatte – eine kleine, leicht erhabene

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    Narbe am Kinn. Andere hatten weniger Glück gehabt. Es hatte sich
    nichts geändert. Der Krieg schleppte sich weiter dahin.
    »Das ist doch alles dummes Zeug«, sagte eine heisere Stimme dicht
    neben mir.
    Es war Stanford, der Besitzer des Cafés. Wie ich war er
    Krimveteran, wenn auch aus einem früheren Feldzug. Anders als ich
    hatte er dort mehr verloren als nur seine Unschuld und ein paar gute
    Freunde; er humpelte auf zwei Blechbeinen durchs Leben und hatte
    genug Granatsplitter für ein halbes Dutzend Konservendosen im Leib.
    »Die Krim geht die Vereinten Nationen einen Dreck an.«
    Obwohl wir ziemlich unterschiedliche Auffassungen hatten,
    unterhielt er sich gern mit mir über die Krim. Was sonst eigentlich
    niemand tat. Die Soldaten, die in den anhaltenden Konflikt mit Wales
    verwickelt waren, genossen weitaus größeres Prestige; Krimkämpfer
    auf Urlaub ließen ihre Uniform zumeist im Schrank.
    »Das glaube ich nicht«, erwiderte ich unverbindlich und starrte aus
    dem Fenster; an der nächsten Ecke stand ein bettelnder Krimveteran
    und rezitierte für ein paar Pennies Longfellow-Gedichte.
    »Wenn wir sie jetzt zurückgeben, sind Millionen umsonst
    gestorben«, setzte Stanford schroff hinzu. »Wir sind seit 1854 auf der
    Krim. Sie gehört uns . Genausogut könnten wir den Franzosen die Isle
    of Wight zurückgeben.«
    »Wir haben den Franzosen die Isle of Wight zurückgegeben«, sagte
    ich nachsichtig; Stanfords Interesse am Tagesgeschehen beschränkte
    sich im allgemeinen auf die Ergebnisse der Ersten Krocketliga und das
    Liebesleben der Schauspielerin Lola Vavoom.
    »Ach ja«, murmelte er stirnrunzelnd. »Stimmt. Auch so eine
    Schnapsidee. Wofür hält diese UNO sich eigentlich?«
    »Ich weiß nicht, aber wenn sie dem Morden ein Ende macht, ist ihr
    meine Stimme sicher, Stan.«
    Der Barkeeper schüttelte resigniert den Kopf, während DuffRolecks seine Rede zu Ende brachte: »… es besteht nicht der
    geringste Zweifel, daß Zar Alexej Romanow IV. ein verbrieftes

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    Anrecht auf die Hoheitsrechte über die Halbinsel hat, und ich für
    meinen Teil sehe dem Tag, da wir unsere Truppen abziehen und dieser
    unermeßlichen Vergeudung von Menschenleben und Ressourcen ein
    verdientes Ende bereiten, mit Freude und Zuversicht entgegen.«
    Die Nachrichtensprecherin ging zum nächsten Thema über – die
    Regierung wolle den Käsezoll auf 83 Prozent erhöhen, ein
    unpopulärer Schachzug, der die militanteren unter unseren Mitbürgern
    zweifellos dazu veranlassen würde, vor den Lebensmittelgeschäften
    zu demonstrieren.
    »Wenn sich die Russkis zurückziehen würden, wäre der Spuk
    morgen vorbei«, sagte Stanford grimmig.
    Das war kein Argument, und das wußte er genauso gut wie ich. Auf
    der gesamten Krim gab es nichts mehr, was zu besitzen sich lohnte,
    ganz gleich wer den Krieg gewann. Der einzige Landstrich, den die
    Artillerieduelle nicht in Schutt und Asche gelegt hatten, war stark
    vermint. Historisch und moralisch gehörte die Krim zum Russischen
    Reich, und damit basta.
    Die nächste Meldung befaßte sich mit einem Scharmützel an der
    Grenze zur Volksrepublik Wales; keine Verletzten, nur ein paar
    Schüsse über den Wye in der Nähe von Hay. Wie üblich hatte der
    walisische Präsident-auf-Lebenszeit Owain Glyndwr VII. in seinem
    jugendlichen Übermut Englands imperialistischen Anspruch auf ein
    vereintes Großbritannien dafür verantwortlich gemacht; wie üblich
    hatte das Parlament nicht einmal eine
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